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Navid Kermani

Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt

München: C. H. Beck 2013; 253 S.; geb., 19,95 €; ISBN 978-3-406-64664-5
Auf den ersten Blick sind es Reportagen aus einer fernen Welt, die der habilitierte Orientalist und Schriftsteller Navid Kermani in diesem Band zusammengestellt hat; deren kürzere Fassungen sind zuvor in verschiedenen Zeitungen erschienen. Er erzählt von alltäglichen Begegnungen und Erfahrungen in Indien, Pakistan, Afghanistan, Iran, Syrien, Palästina – und aus Lampedusa, der Mittelmeerinsel, auf der viele Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa stranden. Auf den zweiten Blick enthüllen seine Beobachtungen allerdings Fragen von universeller Bedeutung. Ein Beispiel dafür sind die Eindrücke, die er in Kaschmir sammelt, jener Region, die bis in die Gegenwart ein Zankapfel zwischen Indien und Pakistan geblieben ist. Die Abwehr (vermeintlicher und tatsächlicher) Terroristen hat auf der indischen Seite, die Kermani bereist hat, zu unübersehbaren Deformationen von Sicherheitspolitik und Rechtsstaat geführt. „Kaschmir lehrt nicht nur, wie weit Demokratien gehen können. Erschreckender ist vielleicht noch, wie weit sie kommen, wenn sie erst einmal den Ausnahmezustand erklärt haben.“ (25) Und so muss man von jungen Männern lesen, die die Armee auf Verdacht verschwinden ließ – und weil sich ihre Angehörigen zu Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen haben, werden nun diejenigen, die von Soldaten verschleppt und getötet werden, so abgelegt, dass sie gefunden werden. Damit niemand mehr Aufsehen erregt, indem er nach ihnen sucht. Von politisch konnotierten Konflikten innerhalb einer Religion berichtet Kermani dagegen aus Pakistan. Dort sei eigentlich die Mystik die vorherrschende Form der religiösen Praxis, die Fundamentalisten aber sorgten dafür, dass der Sufismus zurückgedrängt werde. „Dieser Krieg richtet sich gegen das Herzstück der eigenen Kultur.“ (79) Der Nahe und Mittlere Osten zeigen sich so also auch als Schauplätze der Auseinandersetzung über (nicht nur religiöse) Toleranz und Rechtsstaat. Afghanistan dagegen scheint gar keine Gelegenheit mehr zu haben, wenigstens an sich selbst zu scheitern. Das von außen unterstützte Nationbuilding wäre nach Kermanis Meinung zwar an sich eine prima Idee. Praktisch heiße dies aber nur, dass die Wirtschaft der Geberländer gestärkt werde – die negativen Folgen des Krieges müssten bis in die letzte Konsequenz die Einheimischen tragen. „Das Ergebnis ist, dass es unter den Taliban Strom gab und unter den Amerikanern nicht.“ (134) Die „beunruhigte Welt“, von der Kermani erzählt, ist, so ahnt man schließlich, keineswegs auf die von ihm bereisten Länder beschränkt.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.2 | 2.22 | 2.25 | 4.41 | 2.68 | 2.63 | 2.61 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Navid Kermani: Ausnahmezustand. München: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/195-ausnahmezustand_43605, veröffentlicht am 18.04.2013. Buch-Nr.: 43605 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken