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Cornelia Rauh / Dirk Schumann (Hrsg.)

Ausnahmezustände. Entgrenzungen und Regulierungen in Europa während des Kalten Krieges

Göttingen: Wallstein Verlag 2015 (Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 28); 256 S.; geb., 24,90 €; ISBN 978-3-8353-1332-3
In diesem Band wird der Versuch unternommen, den Begriff des Ausnahmezustandes „aus seiner staatsrechtlich‑polizeilichen Engführung zu lösen“ (7). Die Betrachtungen erstrecken sich auf die 1970er‑ und 1980er‑Jahre – ein Zeitraum, der durch „eine Vielzahl ‚kleiner‘, partiell miteinander verwobener und den Charakter des Politischen verändernder Ausnahmezustände gekennzeichnet war“ (9 f.), schreiben die Herausgeber einleitend. In dieser Zeit intensivierten sich Individualisierungsprozesse und neue Partizipationsansprüche entstanden, woraus eine Reihe von Ausnahmenzuständen unterschiedlichen Charakters hervorgegangen ist, heißt es weiter. Im ersten Abschnitt geht es um die Entwicklungen, die mit dem Kürzel „1968“ bezeichnet werden und die Cornelia Rauh und Dirk Schumann als Elemente in einem längeren Prozess des Wandels verorten, der bereits in den späten 1950er‑Jahren begann und in die 1970er‑Jahre hineinreichte und den sie als transnationales Phänomen verstehen. Dass die RAF und vergleichbare Gruppen gezielt darauf setzten, den Staat in den Ausnahmezustand zu treiben, „um so vor aller Augen die prinzipielle Gewalthaftigkeit seines Machtapparates demonstrieren und seinen Anspruch auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als ‚Fassade‘ entlarven zu können“ (89), konstatiert Petra Terhoeven in ihrem Beitrag zum Linksterrorismus in der Bundesrepublik „während des ‚roten Jahrzehnts‘“ (67). Der zweite Themenbereich des Bandes konzentriert sich auf die Reaktionen nicht‑staatlicher Akteure auf staatliches Handeln, das Ausnahmezustände herbeizuführen schien. So charakterisiert Karl Christian Führer die Hochphase der West‑Berliner „Hausbesetzungen der 1980er‑Jahre als Ausnahmezustand des bundesdeutschen Rechtssystems“ (139) und fragt, wie und mit welchen Folgen es zu einer Ausnahmesituation kommen konnte, in der die Strafverfolgungsbehörden die Hausbesetzer über ein Jahr lang unbehelligt ließen. Im dritten Themenblock werden Ausnahmezustände thematisiert, die neuartige, insbesondere auch körperbezogene Selbsterfahrungen ermöglichten, nicht‑staatlichen Akteuren Handlungsräume eröffneten und über gemeinschaftliche Erfahrungen gesellschaftliche Beziehungen neu strukturierten. In diesem Kontext widmet sich Marcel Streng den Hungerstreiks der RAF, die Ausnahmezustände hervorbrachten, indem der „Strafvollzug punktuell in einen Ausnahmezustand versetzt“ (235) wurde. Der Band ist aus der Jahrestagung 2012 des Zeithistorischen Arbeitskreises Niedersachsen hervorgegangen, der von Dirk Schumann geleitet wird. Er setzt die Arbeit des emeritierten Geschichtsprofessors Bernd Weisbrod an der Universität Göttingen fort.
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Rubrizierung: 2.3132.3142.352.3432.612.622.25 Empfohlene Zitierweise: Sabine Steppat, Rezension zu: Cornelia Rauh / Dirk Schumann (Hrsg.): Ausnahmezustände. Göttingen: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39360-ausnahmezustaende_45807, veröffentlicht am 11.02.2016. Buch-Nr.: 45807 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken