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Moritz Altenried

Aufstände, Rassismus und die Krise des Kapitalismus. England im Ausnahmezustand

Münster: edition assemblage 2012 (Systemfehler 2); 80 S.; 9,80 €; ISBN 978-3-942885-10-2
Altenrieds gegenwartsdiagnostische Bestandsaufnahme der nur vordergründig zeichenlosen Aufstände in England vom August 2011 hinterlässt einen durch und durch zwiespältigen Eindruck. Dies liegt an den zentralen Stärken, aber auch an den großen Schwächen des Bandes. Kurz und bündig zu den Schwächen: Auf 80 Seiten ist keine detaillierte Analyse zu erwarten – das wäre auch nicht der Vorwurf an den Autor, vielmehr sei sein Wunsch gestattet, zu den Ereignissen in England so viel mitzuteilen, dass notwendig komprimiert werden muss. Wenn diese Komprimierung dann auf ein, zwei Seiten zu Beginn eines jeden Kapitels zusammenschrumpft, die noch dazu im Duktus „gute Demonstranten, dumme Polizei, überforderter Staat“ daherkommt, nimmt sich Altenried allerdings ein großes Stück Glaubwürdigkeit, die seine ansonsten präzise Beobachtung durchaus verdient hat. Hinzu kommt, als zweite Schwäche, dass er anstelle der Demonstranten mitsamt deren nicht formulierter politischer Position den Anspruch vertritt, deren vermeintliche, vermutete Positionierung doch transportieren zu können. Der Anspruch indes, die Demonstranten besser als sie sich selbst verstanden zu haben und noch dazu an ihrer Stelle zu sprechen, wird sich kaum einlösen lassen. Die Stärke des Bandes besteht in der theoretischen Anknüpfung – die gerne ausführlicher hätte dargelegt werden können – an die Schriften Giorgio Agambens, Jacques Rancières und Antonio Gramscis. Altenried verknüpft etwa Agambens Lager-Diagnose mit benachteiligten suburbanen Räumen und konzediert für diese Räume einen normalisierten Ausnahmezustand. Wenn diese Bezeichnung auch etwas unglücklich gewählt ist – der Ausnahmezustand kann per Definition nicht normal werden, er kann aber den Normalzustand der Gesetzesgeltung usurpieren – so ermöglicht sie für Altenried die Eröffnung einer Erzählung demokratischen Widerstands: Die der staatlichen Herrschaftstechnik besonders ausgelieferten Unterprivilegierten opponieren gegen die neoliberal inspirierte Apolitik und werden damit zu einer politischen, zu einer demokratischen Avantgarde. Damit ist sicherlich die Geschichte der Aufstände in England nicht zu Ende erzählt, indes lohnt sich – angesichts der immer noch nicht beendeten Wirtschafts- und Finanzkrise – ein weiteres Nachdenken in die von Altenried aufgezeigte Richtung. Denn, so steht zu befürchten, die nächste Krise wird kommen.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.61 | 2.22 | 2.23 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Moritz Altenried: Aufstände, Rassismus und die Krise des Kapitalismus. Münster: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/34956-aufstaende-rassismus-und-die-krise-des-kapitalismus_42039, veröffentlicht am 10.05.2012. Buch-Nr.: 42039 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken