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Jörn Dosch / Ludmila Lutz-Auras (Hrsg.): Asiatischer Regionalismus im 21. Jahrhundert. Integration oder Stagnation?

06.05.2021
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Autorenprofil
Prof. Dr. Rainer Lisowski
Wiesbaden, Springer VS 2020

Der von Jörn Dosch und Ludmila Lutz-Auras edierte Sammelband befasst sich mit Staatenverbünden im asiatischen Raum. Damit steht nach Ansicht des Rezensenten Rainer Lisowski ein viel zu wenig beachteter Themenkomplex im Fokus, dessen besseres Verständnis auch den Blick auf die EU schärfen könnte. Bedauerlich findet er allerdings, dass die Kernbotschaft vieler Beiträge in einer Fülle von Details untergeht. Umso positiver stechen aus seiner Sicht die politischen Analysen von Alessandro Tripolone zur Eurasischen Wirtschaftsunion und von Timotheus Krahl zur Greater Mekong Subregion hervor. (lz)

Eine Rezension von Rainer Lisowski

In ihrer vielbeachteten Einführung in die Politikwissenschaft schlüsselt die leider viel zu früh verstorbene Kollegin Hiltrud Naßmacher eingangs zentrale Kernbegriffe der Politikwissenschaft auf. Aus ihrer Sicht sind Macht, Interessen, Konflikt oder Konsens originär politische Termini und die Politikwissenschaft grenzt sich durch ihr zentrales Interesse an diesen Wörtern gegenüber anderen Sozialwissenschaften wie der Soziologie oder auch gegen Fächer „in der Nachbarschaft“, wie etwa der Rechtswissenschaft, ab. Wer auf der Suche nach diesen Begriffen und den dahinterstehenden Phänomenen das von Jörn Dosch und Ludmila Lutz-Auras edierte Buch liest, dürfte enttäuscht werden. Denn leider wird bei dem gut 280 Seiten umfassenden Sammelband deutlich, wie stark Politikwissenschaft unter der Flagge von ‚Governance-Analysen‘ oftmals als sehr kleinteilige Gesetzes- und Gipfelexegetik verstanden wird.

Dabei klingt die im Untertitel gestellte Frage „Integration oder Stagnation?“ hochinteressant. Gerade aus europäischer Sicht könnte beizeiten der Blick nach Südostasien nützlich sein. Denn mit der ASEAN hat sich ein zweites politisches Gebilde entwickelt, das deutlich mehr ist als ein reines Handelsregime. Doch anders als die Länder der EU halten die ASEAN-Staaten bekanntermaßen das Prinzip der nationalen Souveränität sehr hoch und sind selten bereit, Kompetenzen an den Verbund abzugeben. Insofern ist ein Blick auf die Interessen, die Konflikte und die Machtverteilungen bei diesem sehr ungleichen ‚Geschwister‘ der EU wie ein Blick in einen dunklen Spiegel – ein Blick, der manchmal durchaus erhellend sein könnte.

Der eingangs gebotene historische Abriss „Von Bangsaen nach Astana“ von Herausgeber Jörn Dosch ist noch eine lesenswerte Kurzfassung der ASEAN-Story. Anders als die EU war die ASEAN immer auf intergouvernementale Zusammenarbeit, auf nationale Souveränität, auf Nichteinmischung und auf Konsens ausgerichtet – so verstanden, war sie stets ein Gegenmodell zur EU (4). Ähnlich aber bei beiden: eine starke Fokussierung auf wirtschaftliche Zusammenarbeit und eine wirtschaftliche Verflechtung zwischen den Mitgliedsländern. Darin ist ASEAN übrigens auch durchaus erfolgreich, das intraregionale Handelsvolumen beträgt immerhin ca. 25 % (13). In den abschließenden theoretischen Überlegungen wird dann aber leider der weitere Weg vorgezeichnet, zu wenig auf originär politikwissenschaftliche Begriffe zu setzen und auch zu detailorientiert zu arbeiten.

Bevor der Hauptteil des Buches nach (Süd)ostasien schwenkt, wird zunächst noch die Region Südasien in zwei Aufsätzen besprochen, die zum einen der Frage nach einer südasiatischen Identität und zum anderen nach neuen Sichtweisen auf die Region nachgehen.

Lien Huong Do betrachtet anschließend die ASEAN aus ostasiatischer Perspektive und verdeutlicht unter anderem, dass die Kernprinzipien des Verbundes (leise Diplomatie, informelle Übereinkünfte, Zurückhaltung, Konfliktvermeidung und langsame Konsensbildung, 69) an ostasiatische politische Kulturen gut anschlussfähig sind. Leider werden dann im weiteren Verlauf vor allem die verschiedenen Plattformen und Formate des politischen Austausches aufgezählt (zum Beispiel der East Asian Economic Caucas [EAEC] oder ASEAN+3, 70 ff.). Überspitzt formuliert könnte man hier die Übertragung der immer schon in juristischen Schemata denkenden Policy-Analyse auf die internationale Politik sehen. Diese Denkhaltung kommt in dem gesamten Buch offen zum Tragen. Oftmals führen die Aufsätze beinahe ermüdend detailliert die bestehenden Übereinkommen, Erklärungen und Vereinbarungen auf. Mit dem Ziel, einen asiatischen Regionalismus zu vermessen, der dann am Ende aber recht konturenarm bleibt.

So verhält es sich auch bei Jens Heinrichs Analyse zur Kernwaffenfrage in Südostasien (127-168). Ein Akronym jagt in diesem Text das nächste. Die Akribie des Vorgehens sollte zwar gelobt werden, doch leider geht die Kernbotschaft in den Details unter. Auch Naila Maier-Knapp überspannt den Bogen. Ihr Thema ist angesichts der Unterschiede zwischen EU und ASEAN eigentlich besonders interessant: Wie stark unterstützt die EU beim Aufbau regionaler Strukturen im ASEAN-Raum und welche Erfolge sind zu verzeichnen (169-196)? Wird die ASEAN so schleichend zur EU? Leider werden auch hier in großer Breite Austauschforen und tendenziell blutleere ‚Governance-Strukturen‘ wie das Asia-Europe Meeting (ASEM) durchleuchtet, die am Ende dann doch eine nur überschaubare Interpretationsmasse übrig lassen. Sprachlich wird die magere Ausbeute allerdings durchaus übertüncht. Zum Beispiel: „Angesichts einer eher schwach ausgeprägten Institutionalisierungskultur und der Anlehnung der ASEM-Sicherheitsagenda an die globale Sicherheitsagenda wäre das Entstehen einer identitätsbildenden institutionellen Eigendynamik eine wünschenswerte Entwicklung für den sicherheitspolitischen Einfluss des ASEM auf die Weltpolitik.“ (185) Vulgo: Schade – die Asiaten sind keine Europäer und machen es nicht wie wir und deshalb haben wir beide keinen großen Einfluss auf die Weltpolitik.

Die Untersuchung von Jürgen Haacke zu der Frage, ob die ASEAN als Nicht-Verteidigungsgemeinschaft nicht vielleicht doch zu einer regionalen Sicherheitsordnung Südostasiens beiträgt (89-126), weicht von dem Muster einer Aufzählung von Plattformen und Übereinkünften ab. Am gewinnbringendsten liest sich sein Artikel wenn es um ASEAN in der Zwickmühle zwischen Amerika und China geht. Haacke greift an dieser Stelle die These vom südostasiatischen Staatenverbund als einer „hedging utility“ (Jürgen Rüland) auf. Die intergouvernementale Zusammenarbeit soll den Einfluss externer Player in der Region gering halten (106). Haacke kommt zu dem Schluss, dass ihnen die Wahrung einer strategischen Unabhängigkeit aber deshalb nicht richtig gelinge, weil ihre Interessen und Allianzen einfach zu unterschiedlich seien. Zudem pushe China als übermächtiger Nachbar immer stärker voran – und die USA hielten nur bedingt erfolgreich dagegen. Deutlich wird bei ihm aber ebenfalls, dass China mitnichten nur seine kleineren Nachbarn gefügig zu machen versuche. Xi Jinping arbeite nach Haackes Einschätzung vielmehr gezielt an einer Verbesserung der Beziehungen zu den kleinen Nachbarn auf kooperativem Wege (114).

Mit am interessantesten in dem ganzen Sammelband sind die von der ASEAN abweichenden Betrachtungen von Alessandro Tripolone (229-254) zur Eurasischen Wirtschaftsunion EAWU und von Timotheus Krahl zur Greater Mekong Subregion (255-282) – explizit zwei regionale Gebilde, bei denen sich das leblose Durchkämmen von Gesetzestexten mangels Masse weniger anbietet. Die originär politische Analyse fällt sehr lesenswert aus. Tripolone differenziert zum Beispiel sorgfältig zwischen dem eher ökonomischen Interesse der kasachischen Initiatoren der EAWU im Vergleich zu den politischen Ambitionen Russlands, das auf diesem Wege seine ehemalige Einflusssphäre beisammen zu halten versucht (235 f.). Während die Organe der EAWU sich an der EU orientieren, halten ihre Mitglieder klar die ASEAN-Prinzipien der Souveränität und Nicht-Einmischung hoch (241 f.).

Wer über die enzyklopädisch wirkenden Aufzählungen der Governancestrukturen hinwegschauen kann, für den lohnt sich dieser Sammelband – befasst er sich doch mit einem wichtigen und eher wenig beachteten Themenkreis.

 

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