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Samuel Salzborn (Hrsg.): Antisemitismus seit 9/11. Ereignisse, Debatten, Kontroversen

03.03.2020
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Autorenprofil
Vincent Wolff, M.P.P.
Baden-Baden, Nomos 2019

„Antisemitismus ist eine Verbindung von Weltanschauung und Leidenschaft“ (9), eröffnet Samuel Salzborn diesen Sammelband. Das Werk ist einer Vielzahl von antisemitischen Vorfällen und Spielarten gewidmet und folgt dabei dem Anspruch, die Judenfeindlichkeit vor allem in Deutschland seit dem 11. September 2001 darzustellen. Dieser Zeitpunkt ist nicht zufällig gewählt, wie der Herausgeber selbst klarstellt: Der Terroranschlag in den Vereinigten Staaten sei „ein Wendepunkt in der Geschichte antisemitischer Ressentiments“ (9). Zudem gehe es den Antisemit*innen nicht nur um Menschen jüdischen Glaubens, sondern sie seien gegen alles, was die moderne aufgeklärte Welt kennzeichnet. Gerade dies habe der Terroranschlag vor knapp zwanzig Jahren gezeigt. Dementsprechend ist der Sammelband in vier Abschnitte unterteilt: Antisemitismus der politischen Mitte, von rechts, von links und islamischer Spielart. Dabei variieren die Beiträge qualitativ erheblich – und die unterschiedliche Wahl des Genderns stört den Lesefluss enorm. Ein einheitliches Format hätte dem Buch gut getan.

Inhaltlich gibt es große Varianzen. So schreiben Daniel Poensgen und Benjamin Steinitz über alltagsprägende Erfahrungen von Jüdinnen und Juden in Deutschland. Der Neuwert dieses Kapitels ist für Kenner*innen der Debatte überschaubar und ähnelt über weite Strecken einer Anekdotensammlung an individuellen antisemitischen Vorfällen im Alltag. Die Verfasser schließen ihren Beitrag mit den Worten: „Antisemitismus begegnet Jüdinnen_Juden (sic) in Deutschland an den unterschiedlichsten Orten, er geht von Menschen mit verschiedenen politischen Hintergründen aus, äußert sich in diversen Formen“ (26). Dies verwischt den antisemitischen Charakter der Taten und verkennt Parallelen zwischen den Tätern. Einige Beiträge sind dabei nicht neu – ihre Einschätzungen zur UN als „größte antizionistische Organisation der Welt“ (133) haben Florian Markl und Alex Feuerherdt bereits vor Kurzem in ihrem eigenen Buch ausgeführt.

Qualitativ stehen dem die Beiträge des Herausgebers gegenüber. So analysiert Salzborn Debatten, die in der Gegenwart kaum mehr Erwähnung finden, für die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte aber von erheblicher Bedeutung sind. Dazu zählt beispielsweise die „Möllemann-Debatte“, an die zwar noch erinnert wird, aber selten in der notwendigen Tiefe. Dies holt Salzborn mit Marc Schwietring eingehend nach. Die Autoren zeigen auf, wer Möllemanns antisemitisch gefärbte Aussagen damals offensiv verteidigte – die Liste reicht von Guido Westerwelle über Helmut Markwort und Matthias Mattusek bis hin zu Hans-Ulrich Jörges und die Anhängerschaft der FDP. Letztere gewannen damals sogar im Zuge der Diskussion über eintausend neue Mitglieder und drei Prozentpunkte in Umfragen.

Daran schließen sich weitere Beiträge an, in denen scharf und oftmals abwägend analysiert wird, wie die Debatten im Nachhinein zu verstehen sind. So schreibt Dana Ionescu über die komplexe „Beschneidungsdebatte“: „Weder hat die Kontroverse nichts mit Antisemitismus zu tun, noch ist sie in Gänze antisemitisch, sondern in zahlreichen Facetten“ (57, Hervorhebung im Original). Auf einer Meta-Ebene betrachtet Carla Dondera die Debatte um Günter Grass und den „inszenierten Tabubruch“ und demontiert die Annahme des Antisemitismus-Tabus. Dabei zeigt sie anhand der Grass-Debatte, wie ein angebliches Tabu geschaffen, dann eine Tabuisierung herbeigeschrieben wird und schließlich der so produzierte Tabubruch geschieht. Ähnlich sieht das auch Sandra Rokahr in ihrem Beitrag über Norbert Blüms antisemitisch-eingefärbte Israel-Aussagen in deutschen Talkshows. Diese beiden Fallstudien zeigen das Problem in Deutschland beispielhaft auf.

Ein besonderes Gewicht erhalten Samuel Salzborns Beiträge zu rechtem Antisemitismus aufgrund der Aktualität der Thematik. Dabei wird insbesondere der Antisemitismus in der AfD hervorgehoben, den Salzborn schonungslos seziert. Die Grundlage des Antisemitismus in der rechtsradikalen Partei sieht Salzborn dabei in der Ideologie der Volksgemeinschaft und der schrittweisen Wanderung nach rechts außen: „Seit der Spaltung der Partei im Sommer 2015 sind die Fragmente des konservativen Lacks der AfD längst abgeblättert, noch hält sich aber nicht zuletzt durch den samtweichen Umgang der Medien mit der AfD das Image einer zumindest nicht vollwertig als rechtsextrem zu klassifizierende Partei.“ (201)

Ein wichtiger Aspekt wird von Matthias Quent und Jan Rathje ausgeführt: Die konventionellen Einordnungen von Judenhass entlang der Kategorien rechts, links, „ausländisch“ werden der Gewalt und dem Terrorismus oft nicht gerecht, da „es sich beim Antisemitismus um ein eigenständiges Phänomen handelt, das nicht an politische oder religiöse Spektren gebunden ist“ (166).

Der Sammelband bietet insgesamt ein breites Spektrum an wichtigen Darstellungen und argumentativ starken Analysen. Es sind Expert*innen vertreten, die sich seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten mit Judenhass beschäftigen. Dabei unterstreicht das Werk die besondere Bedeutung, die Samuel Salzborn in der Antisemitismus-Forschung zukommt. Seine scharfsinnigen Beobachtungen und herausragenden Analysefähigkeiten machen ihn zu einem der wichtigsten Forscher der Gegenwart. Vor allem seine akademische Distanz und seine Überzeugung, sich für keine politische Instrumentalisierung einzuspannen, treten wiederholt hervor und unterstreichen die wissenschaftliche Qualität seiner Arbeit. Das Werk eignet sich trotz seiner biederen Aufmachung im klassischen Nomos-Design auch für eine breitere Leserschaft: Es ist weitgehend verständlich geschrieben und liefert fallstudienartig tiefe Einsichten in ein großes Problem.

 

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Rezensionen

Samuel Salzborn

Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne

Weinheim, Beltz Juventa 2018

Samuel Salzborn entwickelt in seiner Analyse die These einer antisemitischen Revolution, deren dritte Welle islamisch geprägt sei und die ihren Auftakt mit den 9/11-Terroranschlägen erlebt habe. Ziel dieser Revolution sei eine Welt, in der sämtliche Errungenschaften von Aufklärung, Moderne und Demokratie zerstört werden. Diese These ist angebunden an den Revolutionsbegriff von Koselleck, die drei Phasen der Inter- und Transnationalisierung von Antisemitismus – des rechten, linken und islamischen – werden in Anlehnung an die Demokratisierungswellen nach Huntington herausgearbeitet.
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Moshe Zuckermann

Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit

Frankfurt a. M., Westend Verlag 2018

Ist Antizionismus gleichzusetzen mit Antisemitismus? Ist Kritik an Israels Nahostpolitik gleichzusetzen mit Antizionismus? Oder gar mit Antisemitismus? Nein, sagt ganz entschieden der in Israel geborene Historiker Moshe Zuckermann. Er wehrt sich dagegen, Kritik an der Politik Israels mit dem Antisemitismus zu verbinden. Für ihn seien die Realitätswahrnehmungen aus dem Ruder gelaufen und mündeten schlicht in eine Realitätsverweigerung, schreibt Rezensent Arno Mohr. Hiergegen wolle Zuckermann mit seiner Streitschrift anschreiben.
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