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Jan T. Gross

Angst. Antisemitismus nach Auschwitz in Polen. Aus dem Polnischen von Friedrich Griese, unter Mitarbeit von Ulrich Heiße

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012; 454 S.; 26,95 €; ISBN 978-3-518-42303-5
Der Krieg war vorbei, aber die Juden in Polen erleben „‚die Fortsetzung der Besatzung’“ (150) – sie wurden um ihr Eigentum gebracht, geschlagen, aus Zügen gestoßen, ermordet. Der Pogrom von Kielce am 4. Juli 1945, bei dem Polen jüdische Mitbürger, unter ihnen Holocaust-Überlebende, umbrachten, ist dabei ein besonders erschreckendes Ereignis. Jan T. Gross, der aus Polen stammt und an der Princeton University Geschichte lehrt, geht diesen antisemitischen Übergriffen anhand von Zeitzeugenberichten nach und fragt nach den Gründen. In diesen Kontext gehört auch, dass die Polen, die Juden geholfen hatten, den Holocaust zu überleben, später davon schwiegen. Gross filtert in seiner Analyse heraus, dass die überregionalen Behörden des sich neu formierenden Staates nicht an den erneuten Diskriminierungen und Übergriffen beteiligt waren. „Einem fähigen, ehrgeizigen, assimilierten und ideologisch an die neuen Zeiten angepaßten Menschen jüdischer Herkunft stand der Weg für den Aufstieg in Volkspolen offen.“ (146) Aber die lokalen Behörden diskriminierten die Juden, indem sie ihnen etwa den Zugang zum Arbeitsmarkt erschwerten. Auch schützen sie sie nicht vor gewalttätigen Übergriffen oder, schlimmer noch, beteiligten sich daran. Gross zeichnet nach, dass viele Juden deshalb in die Auffanglager in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands flüchteten. Als tiefere Ursache für die andauernden Übergriffe identifiziert er, neben einer tief verwurzelten antisemitischen Grundeinstellung, die Furcht davor, die während der sozialen Umwälzung durch Krieg und Holocaust eroberte gesellschaftliche Stellung (und das gestohlene Eigentum) wieder an überlebende Juden abgeben zu müssen. Außerdem schob offenbar gerade die einfachere Bevölkerung die Schuld für die ungewollte kommunistische Machtübernahme den Juden zu – Gross macht sich die Mühe, diesem Vorwurf nachzugehen und kommt auf keine belastbaren Zahlen, die das Stereotyp eines jüdischen Bolschewismus rechtfertigen würden. Zu belegen ist dagegen, dass der katholische Klerus als vielleicht einzige Autorität, die den antisemitischen Übergriffen hätte Einhalt bieten können, schwieg – mit Ausnahme eines Bischofs. Gross ist in Polen wegen dieser wissenschaftlichen Arbeit scharf angegriffen worden, es wurde sogar ein Gesetz erlassen, das denjenigen mit Gefängnis bedrohte, der die polnische Nation bezichtigt, an kommunistischen oder nationalsozialistischen Verbrechen teilgenommen zu haben. Dieser – völlig unhaltbare – Paragraf wurde vom Verfassungsgericht wieder aufgehoben.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.612.232.25 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Jan T. Gross: Angst. Frankfurt a. M.: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35357-angst_42597, veröffentlicht am 10.01.2013. Buch-Nr.: 42597 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken