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Aktuelle nukleare Gefahren und die Probleme der Rüstungskontrolle. Einige Grundgedanken

20.12.2018
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Dr. Oliver Thränert

ICAN BerlinICAN Deutschland e.V., der deutsche Zweig der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons, veranstaltete im November 2018 eine Menschenkette zwischen den Botschaften von Nordkorea und den USA in Berlin. Protestiert wurde damit gegen atomare Aufrüstung. Foto: Ralf Schlesener / ICAN Deutschland (https://www.flickr.com/photos/ican_de/38500231532/ CC BY-NC-SA 2.0)

 

Die Entstehung des nuklearen Zeitalters ging einher mit der Herausbildung einer bipolaren internationalen Ordnung. Die Furcht vor einem nuklearen Armageddon führte nach der mit Glück überstandenen Kuba-Krise 1962 zu kooperativen Anstrengungen der beiden Antipoden USA und Sowjetunion mit dem Ziel, trotz bestehender strategischer Konkurrenz das gemeinsame Überleben zu sichern. Die bipolare Konstellation ist mittlerweile längst einer Welt gewichen, die in mehrere Machtzentren zerfällt. Großmächtekonkurrenz ist das hervorstechende Merkmal der heutigen internationalen Arena. Zugleich fokussiert sich der bisherige Anwalt einer liberalen Weltordnung, die USA, ohne deren Führungsleistung die Kontrolle nuklearer Rüstungen während des Kalten Krieges gar nicht denkbar gewesen wäre, auf sich selbst und auf eng definierte nationale Interessen. Ebenso zeigt Russland keinerlei Interesse an einer regelbasierten nuklearen Ordnung. Mehr noch: Der Kreml verstößt mittlerweile gegen Eckpfeiler der europäischen Sicherheitsordnung, wie dem Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenwaffen (INF-Vertrag). Das an internationalem Gewicht gewinnende China ist unwillig oder unfähig, die vormalige Führungsrolle der USA hinsichtlich der Kontrolle atomarer Rüstungen und der Verantwortung für das gemeinsame Überleben zu übernehmen. Es ist zweifelhaft, ob der chinesischen Führung überhaupt die Logik von Rüstungskontrolle einleuchtend ist, die sich an gemeinsamen Sicherheitszielen orientiert und darauf aufbauend versucht Regeln zu entwickeln, die alle Seiten binden.

Indessen wachsen die atomaren Gefahren. Alle neun Kernwaffenmächte modernisieren ihre nuklearen Rüstungen oder bauen diese aus. Neue technologische Entwicklungen wie eine verbesserte Zielgenauigkeit von Raketen oder moderne Möglichkeiten zum Aufspüren von U-Booten gefährden die Überlebensfähigkeit atomarer Arsenale. Zudem können nukleare strategische Fragen nicht mehr isoliert betrachtet werden, hängen sie doch immer mehr mit Entwicklungen bei der Raketenabwehr oder neuen Cyberfähigkeiten zusammen. Das nukleare Gleichgewicht ist dadurch gefährdet. Die im Kalten Krieg geltende Formel „Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter“ könnte bald ausgehebelt werden.

Sowohl die Politik wie auch die Öffentlichkeit in westlichen Ländern reagieren auf diese immer bedrohlichere Entwicklung zumeist mit Ratlosigkeit. Sofern es überhaupt eine Debatte gibt, ist sie zumeist geprägt von hilflos wirkenden Rufen nach einer Rückkehr zu Abrüstung und Rüstungskontrolle. Andere flüchten sich in unrealistische Maximallösungen und unterstützen die seit September 2017 zur Unterzeichnung aufliegende Kernwaffenverbotskonvention. Diese bietet jedoch keine Antworten auf die entscheidende Frage nach einer erforderlichen lückenlosen Überwachung eines solchen Verbots. Entsprechend wird das Abkommen von allen Atomwaffenstaaten und allen denjenigen Ländern, die unter dem atomaren Schutz der USA stehen, boykottiert.

Die Frage ist, welche Rolle kann Rüstungskontrolle in dieser Lage spielen? Das Konzept der Rüstungskontrolle wurde gegen Ende der 50er-Jahre und zu Beginn der 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts entwickelt. Oberstes Ziel war die Verhinderung umfassender Nuklearkriege und die Herstellung strategischer Stabilität. Dieses Konzept ist nach dem Ende des Kalten Krieges weitgehend in den Hintergrund gerückt. Es lohnt, dieses Konzeptes heute wieder aufzugreifen, denn es bleibt weiterhin wichtig, über politische Instrumente zu verfügen, die es erlauben, gefährliche nukleare Dynamiken zu verhindern.

In einem ersten Schritt werden die Grundgedanken der Rüstungskontrolle und ihre Wirkung in der politischen Praxis kurz skizziert. In einem zweiten Schritt werden diejenigen Faktoren herausgearbeitet, die die heutige Situation vom Kalten Krieg unterscheiden. Eine solche Analyse ist die zwingende Voraussetzung, um Rüstungskontrolle auf die heutige Zeit anzupassen. Entsprechend liegt der Schwerpunkt dieses Beitrages auf dem Versuch, besser verständlich zu machen, wo wir heute stehen, anstatt vorschnell Vorschläge nach dem Wohin zu unterbreiten.

Die Möglichkeiten Deutschlands und Europas auf dem Feld der nuklearen Rüstungskontrolle sind begrenzt. Dennoch muss der alte Kontinent in Ermangelung US-amerikanischer Führung wenigstens versuchen, Denkanstöße zu geben. Deutschland ist gefordert, mit europäischen und weiteren gleichgesinnten Partnern einen Diskurs über die Neubelebung der nuklearen Rüstungskontrolle zu initiieren. Auch wenn es einer völligen Überforderung gleichkäme, von Deutschland und seinen Partnern allein eine Kehrtwende der derzeit konzeptionslos dahintaumelnden atomaren Rüstungskontrollpolitik zu erwarten, gilt, dass die Zeit des bloßen Bewahrens und Verwaltens einst geschlossener Abkommen vorbei sein muss. Stattdessen sollten neue nukleare Rüstungskontrollinitiativen wieder Bestandteil des strategischen Denkens und Handelns werden.
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Der vollständige Beitrag ist erschienen in
SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Band 2, Heft 4, Seiten 339–351, ISSN (Online) 2510-2648, ISSN (Print) 2510-263X, DOI: https://doi.org/10.1515/sirius-2018-4003

 

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