Robert A. Dahl / Ian Shapiro: On Democracy
04.10.2021Von der idealen Form zur realen Ausprägung von Demokratien
Ein Guide zu den wichtigsten Fragen
Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Robert A. Dahl beantwortet in „On Democracy“ zentrale Fragen zur Entstehungsgeschichte von Demokratien. Dabei unterscheidet der Autor, so Rezensent Vincent Wolff, zwischen der Demokratie in seiner idealen Form und in seiner realen Ausprägung und zeigt Wege auf, wie sich Erstere erreichen lässt. So könnten etwa mehr Kommunikation und eine intensivere Vernetzung zwischen den Ländern dazu beitragen, dass sich bestehende Demokratien zu idealen weiterentwickeln. Zwischen Marktwirtschaft und Demokratie bestehe ein Zusammenhang, sie könne zu einer Demokratisierung führen. (ste)
Eine Rezension von Vincent Wolff
„The twenty-five centuries during which democracy has been discussed, […] have not [..] produced agreement on some of the most fundamental questions about democracy” (3), konstatiert der 2014 verstorbene US-amerikanische Politikwissenschaftler Robert Alan Dahl und tritt an, dies zu ändern. Das Buch sei ein „Guide” (4) zu den wichtigsten Fragen zur Demokratie. Die Erstauflage erschien bereits 1998, die Zweitauflage 2015, auf der diese Ausgabe basiert.
Der Anspruch des Autors, für die kommenden Generationen ein Standardwerk zu schaffen, durchzieht das Buch. Ian Shapiro – wie Dahl Professor für Politikwissenschaft an der Universität Yale – erklärt im Vorwort, Dahl sei „the most important political scientist of the twentieth century” (vii),– eine zumindest ambitionierte Einschätzung. In der Einleitung wird Dahl als Begründer der modernen Politikwissenschaft gelobt, der seine theoretischen Annahmen immer empirisch untermauert habe. Dahls Arbeit habe sich fast ausschließlich auf das 20. Jahrhundert konzentriert, weshalb neuere politische Phänomene damit nur schwer zu greifen seien. Gerade hinsichtlich der Rolle politischer Parteien sei Dahl, so Shapiro, auffallend stumm geblieben.
Dahl schreibt in einfachen Worten für ein breites Publikum und stellt in schnellem historischen Gang die wichtigsten Stationen der Entwicklung der Demokratie dar, von den ersten Anfängen und unterschiedlichen Wegen – immer an Einsteiger*innen und Anfänger*innen gerichtet: „[T]he course of democratic history would look like the path of a traveler crossing a flat and almost endless desert broken by only a few hills, until the path finally begins the long climb to its present heights“ (9 f.). Demokratie sei, ähnlich dem Feuer, an vielen Stellen gleichzeitig entstanden, sobald einige grundlegende Bedingungen erfüllt waren, wie Sesshaftigkeit, kleinere Gruppen mit engem Austausch und eigener Identität sowie wenig Einfluss von außen.
Dahl nimmt eine durchgehend wichtige Unterscheidung zwischen der Demokratie als Idealform und der Demokratie in ihrer heutigen Ausprägung vor. Der Weg zur Erreichung der idealen Demokratie erfolge dabei nur über Institutionen: Diese müssten gestärkt werden, vor allem die der politischen Bildung. Dabei gehe es um zwei Schritte: Im ersten müsse eine stabile Demokratie errichtet werden (was in zahlreichen Ländern bereits geschehen sei), diese müsse dann über ihr bestehendes Niveau hinaus weiter ausgebaut werden. Vor allem Letzteres stelle gegenwärtig eine Herausforderung für viele ältere Demokratien dar. Dahl hat dazu auch konkrete Vorstellungen und schlägt vor, die jeweilige Verfassung regelmäßig zu überprüfen. So könnten sich circa alle zwanzig Jahre führende Verfassungsrechtler*innen, politische Entscheider*innen und informierte Bürger*innen zusammensetzen und auf Grundlage der Erfahrungen anderer Länder die bestehende Verfassung eines Landes überarbeiten und an neue Herausforderungen der Moderne anpassen.
Dahl wendet sich auch komplexeren Risiken und Wechselwirkungen zu, vor allem der Frage nach Demokratie und Kapitalismus. Es gebe keine Demokratie ohne Marktwirtschaft, aber Marktwirtschaft funktioniere auch ohne Demokratie. Allerdings könne die Einführung der Marktwirtschaft zu einer Demokratisierung führen, so der Autor mit einem gewissen Optimismus bezüglich China. Dennoch stellten die Machtmechanismen des Kapitalismus große Schwierigkeiten für demokratische Prozesse dar, so Dahl. Umso wichtiger sei es, auch die Wirtschaft zu demokratisieren.
Die Zukunft der Demokratie hänge laut Dahl an drei großen Herausforderungen. Angesichts der Tatsache, dass das Buch erstmals 1998 veröffentlicht wurde, stärkt dies seine Vorhersagen noch. Die großen Arbeitsbereiche seien „changes in scale“, „complexity“, „communications“ (187). Die Internationalisierung der Politik führe zu einer größeren Vernetzung zwischen den Ländern, Politik werde immer komplexer und ausdifferenzierter und neue Kommunikationskanäle erforderten viel mehr kommunikative Arbeit. Das sei allerdings alles machbar und könne dabei helfen, bestehende Demokratien zu idealen werden zu lassen: „The success of the advanced democracies would then provide a beacon for all, throughout the world, who believe in democracy“ (188).
Im Vorwort erläutert Shapiro den US-amerikanischen Fokus der Arbeit, macht aber auch klar: Dahl hatte eine klare Präferenz für bestimmte politische Systeme. Er bevorzugte für die Vereinigten Staaten das Verhältnis- gegenüber dem Mehrheitswahlrecht. Besonders überraschen dabei die zahlreichen Verweise auf das deutsche Wahlsystem, das ausgesprochen positiv rezipiert und dem Vorbildcharakter attestiert wird. Tatsächlich fallen die vielen Verweise auf deutsche politische Begebenheiten in dem US-amerikanischen Werk auf.
Shapiro, der als Koautor etwas untergeht, zeigt Dahls unzweifelhaft bahnbrechende Arbeit in den Vereinigten Staaten exemplarisch auf. So habe Dahl bereits 1957 bewiesen, dass der Oberste Gerichtshof in den USA entgegen landläufiger Meinung kaum zum Schutz von Minderheitenrechten beitrage. Tatsächlich seien es demokratische Akteurinnen und Akteure, die in diesen Bereichen soziale Fortschritte erzielten. Daher sei die Stärkung der Gerichte nicht zwangsläufig der effektivste Weg, um den Schutz von Minderheiten zu garantieren.
Dahl und auch Shapiro verlieren das große Ganze nicht aus dem Blick und nehmen größere Entwicklungen in den Blick, über das Tagesgeschäft hinaus. So hätten die Reformen der 1970er-Jahre in den USA die Vorwahlen gestärkt. Dank niedriger Wahlbeteiligung setzten sich dort die Randgruppen durch – Donald Trump und seine Anhängerschaft seien das klarste Zeichen dafür.
Das Buch nimmt vor allem die USA in den Blick, was, wie bereits ausgeführt, Shapiro im Vor- und Nachwort erläutert. Dies führt zu einer argumentativen Nivellierung, so werden besondere US-Phänomene verallgemeinert und auf andere politische Systeme übertragen. Shapiro fragt beispielsweise in seiner Abhandlung über moderne politische Entwicklungen: „How long can (the shunning of the AfD) continue if the AfD keeps growing whole other parties shrink and fragment?“ (xx) Hier wäre auf die Dahl‘sche Würdigung zu verweisen: Wo ist hier die Empirie? Dennoch zeigt das Buch auch aufgrund seiner vielfältigen statistischen Aufbereitungen ein großes Potenzial für Weiterentwicklungen von Demokratien und für eine kritische Analyse des Status quo. Der Erfolg in Europa ist allerdings schwer abzusehen.