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Pierre Rosanvallon: Das Jahrhundert des Populismus. Geschichte –Theorie – Kritik

03.03.2021
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Autorenprofil
Martin Repohl, M.A.
Hamburger Edition 2020

„Der Populismus revolutioniert die Politik des 21. Jahrhunderts. Doch das wahre Ausmaß der von ihm bewirkten Umwälzungen haben wir noch nicht erfasst. Das Wort mag allgegenwärtig sein, die Theorie des Phänomens hingegen findet sich nirgendwo“, so der französische Demokratietheoretiker Pierre Rosanvallon. Sein Ziel sei es, schreibt Rezensent Martin Repohl, „einen ersten Entwurf“, dieser fehlenden Theorie des Populismus vorzulegen. Zu diesem Zweck wendet er sich der Anatomie des Populismus zu und benennt Strukturmerkmale. Die bisherige Differenzierung in einen rechten und linken Populismus wird zurückgewiesen.

Eine Rezension von Martin Repohl

Hat der Populismus mit dem Ende der nur vier Jahre währenden Präsidentschaft Donalds Trumps – zumindest in den westlichen Demokratien – seinen politischen Zenit überschritten? Wie wahrscheinlich ist es, dass auf eine Phase des vielerorts polarisierten Klimas, des aggressiven Umgangs und der sich auflösenden Bindungskraft einst selbstverständlicher demokratischer Normen nun eine Phase demokratischer Prosperität folgt? Folgt man der Argumentation, die der international renommierte Demokratietheoretiker und Professor am College de France, Pierre Rosanvallon in diesem Buch entwickelt, dann ist dieses zyklische Verständnis eines demokratischen Auf und Abs bereits eine grobe Verkürzung der eigentlichen Dimension dieses politischen Phänomens. Denn womöglich – so die These des Buches – handelt es sich bei dem Populismus um die wesentliche aufstrebende Ideologie des 21. Jahrhunderts.

So eröffnet Rosanvallon sein Werk wie folgt: „Der Populismus revolutioniert die Politik des 21. Jahrhunderts. Doch das wahre Ausmaß der von ihm bewirkten Umwälzungen haben wir noch nicht erfasst. Das Wort mag allgegenwärtig sein, die Theorie des Phänomens hingegen findet sich nirgendwo“ (9). Grund dafür ist, dass der Populismus in seiner Erscheinung nicht nur – über die politischen Spektren hinweg – äußerst heterogen ist, sondern selbst ein stark mit Affekten besetzter Begriff ist, der zu sehr in den alltäglichen Distinktionskämpfen (theorie-)politischer Auseinandersetzung verwoben ist, um selbst Gegenstand einer fundierten Theoriebildung werden zu können. Verdeutlicht wird dies beispielsweise durch die Bewegung „Aufstehen“ und ihrem theoretischen Widerhall, zum Beispiel in den Werken Chantal Mouffes.

Das von Rosanvallon ausgemachte Desideratum einer fundierten Populismustheorie besteht daher eben nicht darin, diesen als Teil eines politischen Zyklus zu betrachten, der in seinem Erscheinen entweder eine Verfallsstufe oder ein vielversprechendes Zukunftsprojekt zu erkennen meint (oder sogar beides zugleich) und auch nicht darin, den Populismus ausschließlich mit den „Motive[n] für das populistische Votum“ (11) zu identifizieren, sondern gerade darin, in der Vielgestaltigkeit des Populismus zentrale Strukturmerkmale zu bestimmen und dieses Phänomen so über Rhetorik und Votum hinaus einer ganzheitlichen Analyse zugänglich zu machen. Nur wenn seine ganze historische und geografische Bandbreite vom Bonapartismus über den Peronismus bis hin zu Orbán und Trump in seiner Verwandtschaft anerkannt wird, ist eine einheitliche Theoriebildung möglich: „Ziel des Buches ist es, einen ersten Entwurf dieser fehlenden Theorie vorzulegen. Und zwar mit dem Anspruch, dies in Begrifflichkeiten zu tun, die eine radikale – das heißt an die Wurzel gehende – Konfrontation mit der populistischen Idee ermöglichen. Das impliziert, sie als aufsteigende Ideologie des 21. Jahrhunderts anzuerkennen, eine Anerkennung, die zur Ausbildung einer fundierten Kritik auf dem Gebiet der Demokratie- und Gesellschaftstheorie erforderlich ist“ (14 f.). Indem sich Rosanvallon in der Anlage seiner Argumentation der bisher üblichen theoriepolitischen Distinktion eines schlechten rechten und eines guten linken Populismus verweigert, erlangt er die notwendige intellektuelle Souveränität gegenüber seinem Forschungsgegenstand zurück, die ihm ermöglicht, dieses anspruchsvolle Vorhaben stringent durchzuführen.

Rosanvallon gliedert seine Argumentation ausgehend von diesem einleitenden Problemaufriss in drei Teilschritte. Zunächst wendet er sich der Anatomie des Populismus zu. Hier werden sechs Strukturmerkmale herausgearbeitet und detailliert analysiert: Die Auffassung des homogenen Volkes, die Theorie der direkten/unmittelbaren Demokratie, der populistische Repräsentationsmodus, die Politik des Nationalprotektionismus, die Bedeutung von Leidenschaften und Emotionen sowie die Einheit und Vielfalt der Populismen. Insbesondere dieser sechste Abschnitt ist hervorzuheben, da hier sehr deutlich die bisherige Differenzierung in einen rechten und linken Populismus – welche selbst zentraler Bestandteil bisheriger theoretischer Debatten war und ist – zurückgewiesen wird, indem Rosanvallon zeigt, dass das was als populistisch zu bezeichnen ist, eben nicht (nur) Gegenstand eines politischen Framings sein kann, sondern vielmehr anhand der hier vorgestellten Strukturmerkmale identifiziert werden kann.

So findet sich beispielsweise die Idee eines Führerprinzips nicht nur in als rechts eingeordneten Auffassungen, sondern ebenso in sich als links titulierten Gegenentwürfen, womit Rosanvallon demonstriert, wie und auf welcher theoretischen Ebene eine tatsächlich neutrale Theoriebildung des Populismus operieren muss. Der zweite Abschnitt befasst sich mit mehreren historischen Beispielen aus der Epoche des französischen Bonapartismus sowie des lateinamerikanischen Populismus. Im Vergleich werden hier mehrere strukturelle Aporien herausgearbeitet. Erfrischend ist, dass Rosanvallon hier – wie auch in seinen weiteren demokratietheoretischen Werken – ganz auf die Breite und Heterogenität einer historischen Perspektive setzt und keine Engführung zugunsten gegenwärtiger Phänomene wie Trump oder Orbán betreibt.

Im dritten Teil unterzieht Rosanvallon die so gewonnene Phänomenbestimmung des Populismus einer fundierten Kritik. Auch hier anhand mehrerer Teilaspekte: die Frage des Referendums, Polarisierung versus Potenzierung, die Imagination der Volkes sowie die Erscheinung der Demokratur. Insbesondere dieser letzte Abschnitt ist hervorzuheben, da Rosanvallon an dieser Stelle verdeutlicht, dass dezidiert populistische Regime eben nicht mit Diktaturen gleichzusetzten sind, sondern einen Regimetypus eigener Art bilden, der diktatorische Elemente innerhalb fortbestehender demokratischer Strukturen installiert. Diese Abgrenzung ist überaus wichtig, um das eigentliche Bedrohungspotenzial populistischer Regime in ihrer konkreten Erscheinungsweise vollständig erfassen zu können.

Insbesondere dieser umfassende Kritikteil ist von zentraler Relevanz für das Gelingen einer fundierten Populismustheorie – wie auch für Rosanvallons umfassendes Theorieprojekt einer Strukturgeschichte der westlichen Demokratien, welches bereits in vier Bänden vorliegt und durch dieses jüngste Werk sinnvoll ergänzt und fortgeführt wird. Denn Rosanvallon zeigt, dass der Populismus trotz seiner Heterogenität und vermeintlichen Unbestimmbarkeit über zentrale Strukturmerkmale verfügt, die klar identifiziert werden können, verdeutlicht dadurch aber zugleich auch, dass populistische Tendenzen innerhalb der westlichen Demokratien keine singulären Erscheinungen sind, sondern einer gesamtgesellschaftlichen Dynamik unterliegen. Indem Rosanvallon den Populismus als aufstrebende Ideologie des 21. Jahrhunderts bezeichnet, lenkt er den theoretischen Blick genau auf jene gesellschaftlichen Tendenzen, die seinen Erfolg erst ermöglichen: Identifizierendes und vereinheitlichendes Denken, der Wunsch nach einfachen Lösungen für komplexe Probleme, die Tendenz zur Abschottung. Durch seine fundierte, kenntnisreiche und überaus ambitionierte Theoriebildung gelingt es Rosanvallon zu verdeutlichen, dass der Populismus weder Schicksal noch Lösung ist, sondern gefährliches Symptom einer tiefgreifenden strukturellen Krise gegenwärtiger Demokratien. Indem er diesem Phänomen theoretisch auf Augenhöhe begegnet, kann nicht nur eine intellektuelle Souveränität ihm gegenüber zurückgewonnen werden, sondern auch eine Kritik- und Lösungsperspektive aufgezeigt werden, die die unfruchtbaren Dichotomien gegenwärtiger Diskussionen hinter sich lässt und Demokratietheorie mit Gesellschaftstheorie verbündet.

So schließt Rosanvallons Auseinandersetzung mit der Vorstellung einiger Merkmale, die den „Geist einer Alternative“ (227 ff.) umreißen sollen. Im Zentrum steht hier vor allem die Erkenntnis, dass Demokratie eine wandlungsfähige Beziehungsform ist, die immer wieder neu entdeckt und gesellschaftlich angeeignet werden muss. Neue Ausdrucksformen, Verfahren und institutionelle Innovationen sind nur ein Schritt hin zu einer inklusiven und lebendigen Demokratie, die aus der ganzen Bandbreite gesellschaftlicher Beteiligung schöpft. Viele dieser Vorschläge sind bereits aus früheren Werken Rosanvallons bekannt, was der Schlussfolgerung seiner Populismusanalyse jedoch weiteren Nachdruck verleiht: Nötig ist eine Demokratietheorie, die sich der Zukunft ihres Gegenstandes als konkretes Gestaltungsprojekt verschreibt und so die Aporien gegenwärtiger Krisendiagnosen überwindet.

 

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Externe Veröffentlichung

Studierende aus dem Seminar "Populismus als soziales Phänomen"/ 10.03.2021

Goethe-Universität Frankfurt am Main

 

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