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Cinzia Sciuto: Die Fallen des Multikulturalismus. Laizität und Menschenrechte in einer vielfältigen Gesellschaft

01.12.2020
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Autorenprofil
Prof. Dr. Rainer Lisowski
Aus dem Italienischen von Johannes von Vacano.
Zürich, Rotpunkt 2020

Wahrschau! Dieses Wort bezeichnet nicht die polnische Hauptstadt in falscher Schreibweise. Es ist ein Begriff aus der Seefahrt und er bedeutet: Achtung! Aufpassen! Man könnte das Wort dem komplexen und schwer einzuordnenden Buch „Die Fallen des Multikulturalismus“ von Cinzia Sciuto voranstellen. Der Titel lässt wie ein lautes Nebelhorn erst einmal aufhorchen: Multikulturalismus, das ist doch ein in zunehmendem Maße positiv gefärbter Begriff?! Voraus also eine schöne, glatte See, möchte man meinen. Dann aber ist von einer „Falle“ die Rede? Sicher denkt der eine oder die andere augenblicklich an Thilo Sarrazin oder an die AfD und plötzlich ist da diese gefährliche Untiefe vor dem Bug. Nun kommt aber das Sonderbarste, und es klingt fast schon wie Seemannsgarn: Die Kritik am Multikulturalismus kommt bei diesem Buch nicht aus der Ecke der üblichen Verdächtigen, sondern von einer Autorin, die sich in ihrem Essay und in Interviews selbst immer wieder als progressiv und als links bezeichnet.

Cinzia Sciuto ist eine italienische Philosophin, die auch als Journalistin und Redakteurin arbeitet. Sie lebt in Frankfurt am Main und schreibt regelmäßig für Zeitungen wie L’Espresso oder die taz. Das schön gestaltete Buch umfasst etwa 180 Seiten Text und ist in fünf Kapitel übersichtlich und gut nachvollziehbar gegliedert. Die Kapitel bauen aufeinander auf: Auf „Laizität als Voraussetzung für Demokratie“ (Kapitel 1) folgt eine Untersuchung zur „Religion als gesellschaftlichem und kulturellem Phänomen“ (Kapitel 2) im Allgemeinen. Die Auseinandersetzung mit dem Islam als „neuer“ europäischer Religion folgt in Part 3. Das vierte Kapitel befasst sich mit der inhärenten Widersprüchlichkeit von universalen Werten und identitärer Weltsicht. In Abschnitt 5 schließlich wird unter der Überschrift „Multikulturalismuskritik aus kosmopolitischer Perspektive“ ein abschließendes Plädoyer für den von Sciuto vertretenen radikalen Individualismus gehalten.

Schauen wir uns zunächst die Hauptroute an, auf der Cinzia Sciuto ihre Kritik am Multikulturalismus übt. Sie hat ein grundsätzliches Problem damit, kulturelle Eigenheiten über Gruppen zu definieren. Zu vielschichtig, viel zu individuell seien die Menschen. Gruppen verstellten den Blick eben darauf. Zu sehr werde von außen durch Gruppenattribute Verhalten auf Individuen projiziert („der Muslim“, bzw. „die Muslima“). In ihrem Buch entwickelt sie daher eine kleine politische Philosophie des radikalen Individualismus in Zeiten identitärer Politik. Und sie richtet sich darin strikt gegen eine politische Rolle für jedwede Gruppen. Emanzipation aus allen unterdrückenden Bedingungen – das ist für sie Ziel und Zweck aller progressiven Politik. Und aus ihrer Sicht kommt die Unter- oder Bedrückung oftmals aus der eigenen Gruppe. Seien es italienische Katholiken, amerikanische Kommunitaristen, muslimische Verbände oder andere religiös-kulturelle Outfits. Rechte haben aus ihrer Sicht individuelle Menschen, aber keine Gruppen. Zu zaghaft und zu rücksichtsvoll gegenüber einzelnen Gruppen zu sein fördere sowieso nur deren Eliten, die oft gar kein Interesse an einer Besserung von Lebenslagen hätten, weil sie sich selbst damit überflüssig machten (126).

Aus dieser Grundüberzeugung des radikalen Individualismus leitet sie eine zentrale Aufgabe des Staates ab: Er müsse zur Not für bedrängte Individuen einspringen und dürfe keinesfalls einzelne Gruppen aus religiösen oder kulturellen Gründen eigene Regeln aufstellen lassen. Um dies gewährleisten zu können, müsse der Staat vor allem radikal laizistisch sein. Der Religion will sie eine rein „private“ Rolle zuweisen und meint, dies sei heute noch gar nicht der Fall. In ihrer Analyse benutzt sie dabei leider manchmal eher wolkige Begriffe, etwa wenn sie davon spricht, Religion würde weiterhin zu stark den öffentlichen Raum „strukturieren“ (52) – was immer das heißt.

Sehr kritisch geht sie vor diesem Hintergrund mit der Idee von Identität ins Gericht: „Ein progressiver Ansatz hat keine andere Wahl, als sich dem Paradigma zu verschreiben, wonach das Individuum bei der Konstruktion seiner Identität vollkommene Autonomie besitzt.“ (111) Aus ihrer Sicht kann man Identität zweifach verstehen: entweder als ein „Paradigma der Autonomie“, bei der jeder Mensch sich seine bunte, vielschichtige Identität selbst bastelt oder als „Paradigma der Heteronomie“, bei der einem von einer Gruppe ein Stempel aufgesetzt wird. Die Linke liefe in eine Falle, so Sciuto, wenn sie nur allzu oft der zweiten Idee von Identität auf den Leim gehe (vgl. 106 f.). Leider befasst sie sich an dieser Stelle mit Fragen der Religion und lässt etwa Fragen von Genderidentität außer Acht. Ob ihre gegen religiöse Eiferer gerichteten Sätze wie „[m]eine Empfindlichkeit darf jedoch nicht das Maß für die Freiheit eines anderen sein“ (148) auch dann gelten würde, wenn beispielsweise jemand gendergerechte Sprache ablehnte, bleibt unbesprochen.

Umso skeptischer tritt sie dagegen dem Islam als neuer Religion in Europa gegenüber auf und beleuchtet dessen Schattenseiten. Den Vorwurf der „Islamophobie“ will sie grundsätzlich nicht gelten lassen. Zu häufig sei dieser nichts weiter als eine „weapon of mass distraction (Massenablenkungswaffe)“ (75). In ihren Forderungen geht sie weit, etwa wenn sie ein persönliches Erlebnis schildert in dem sie es als unbotmäßig empfindet, dass eine kopftuchtragende Muslima ihre Kinder in einem öffentlichen Kindergarten betreute. Gerade der Kopftuchstreit habe aus ihrer Sicht gar nichts mit dem Islam zu tun – Kopftücher gebe es auch in anderen Kulturen und Religionen. Sich mit einem Zwang zur Bedeckung zu befassen sei daher nicht diskriminierend, weil dieses kulturelle Muster nicht nur mit dem Islam in Verbindung zu bringen sei (78 ff.). Ganz grundsätzlich müsse ein politischer Kampf gegen die „Kultur der Sittsamkeit“ geführt werden (98).

Manchmal ist sie in ihrer Kritik ein klein wenig unehrlich mit sich selbst. So vergisst sie bei Aussagen wie „keine Religion ist gegen Extremismus gefeit“ (55) umfassender zu besprechen, dass auch der Laizismus keineswegs vor Extremismus oder Fundamentalismus sicher ist und mitnichten automatisch gegen blutige Exzesse schützt – die Opfer von Maos Kulturrevolution oder Stalins Säuberungen etwa könnten davon ein Lied singen. Hier wird ein Subkontext des Essays deutlich, der leider viel von ihren guten Gedanken entwertet: Eine Atheistin hat eine Rechnung mit der Religion offen.

Doch es kommt noch schlimmer. Manchmal wird dem Leser/ der Leserin richtiggehend unwohl bei der Schärfe, die die Autorin in ihre Überlegungen einbringt. Sie tragen selbst den Keim extremer Positionen in sich, ja, sie haben fast schon einen totalitären Unterton. Wenn etwa der „Mehrheitscharakter“ auf keinen Fall als Argument für eine privilegierte Behandlung von Religion tauge (53), fühlt man sich wie bei Lenin an eine sich selbst ermächtigende, intellektuelle Avantgarde erinnert, die zur Not der Masse den rechten Weg weisen muss. Und es geht noch weiter: Mit „fester Hand“ müsse der laizistische Rahmen gezogen werden und die „Subjekte“ hätten sich ihm anzupassen (34). Es genüge nicht mehr, Staat und Kirche nur zu trennen. An „allen Fronten“ (64) müsse gekämpft werden. Für den laizistischen Staat sei die Zeit gekommen, die Verantwortung zu übernehmen und genau zu hinterfragen, was sich im Innern bestimmter Gemeinschaften zutrage (36). Für die vermeintlich gute Sache und im Namen von Demokratie und Emanzipation darf der Staat also alles hinterfragen, alles durchleuchten und alles beregeln. Die klare Abgrenzung zu totalitärem Denken fällt in solchen Momenten nicht immer leicht.

In seiner Wirkung wird sich das Buch eher an die politische Linke richten und dort vermutlich auf Widerhall treffen. Für das politisch eher konservative Spektrum wird man sich schon bei den Grundannahmen über einen radikalen Individualismus nicht einig werden. Sciutos Ideen verlangen zudem nach einer nicht-religiösen Gesellschaft. Die gibt es aber nicht – außer eben in solchen politisch linken Kreisen, die mit Religion so gar nichts am Hut haben. Auch kann die Autorin noch so sehr betonen, Laizismus sei nicht das Gegenteil von Religion, sondern die eher querliegende Grundbedingung moderner Gesellschaften – die Mehrheit der (minimal religiös empfindenden) Menschen sieht das anders und nimmt es so nicht wahr. Und hier gilt dann am Ende das Thomas-Theorem: Was als Realität empfunden wird, ist für die meisten Menschen die Realität.

Für den deutschen Diskurs muss man zudem feststellen, dass die Autorin in weiten Teilen eine eher italienische Diskussion führt. Wenngleich immer wieder auch Beispiele aus der Bundesrepublik eingeflochten werden, nutzt sie doch oft den italienischen Katholizismus und den darin verflochtenen Opus Dei als Blaupause für ihre Argumentation (zum Beispiel 43-45). Für die meisten Deutschen dürfte das Abarbeiten am Katholizismus befremdlich wirken. Von den Problemen, die da beschrieben werden, ist unsere Lebenswelt doch recht weit entfernt. Ihr Empörungsmoment dürfte bei den meisten Deutschen eher Achselzucken auslösen.

Das Buch ist am Ende komplex und schwierig einzuordnen. Auf der einen Seite können dem Essay weder Konsequenz noch Ernsthaftigkeit noch tiefschöpfende Gedanken noch umfassende Verweise auf andere Autoren abgesprochen werden. Zugleich bleibt da aber doch das Unbehagen gegenüber einer immer wieder aufblitzenden Radikalität und das grundsätzliche Gefühl, dass manche Ausführungen an den echten Problemen vorbeigehen und ein Problem lösen wollen, das es so (hierzulande) nicht gibt. In einem Interview mit der Website „reformiert.info“ der reformierten Kirchen in der Schweiz erklärt die Autorin, dass sie sich als überzeugte Atheistin oftmals diskriminiert fühle von einer Gesellschaft, in der religiöse Symbole mit dem öffentlichen Handeln in Verbindung gebracht werden könnten. Leider bleibt in der Gesamtschau mehr als einmal eben dieser Eindruck haften: Hier schreibt sich eine „beleidigte“ Atheistin (vgl. 50) ihren Zorn gegen alles Religiöse von der Seele – und dennoch ist es ein lesenswertes Buch.

 

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