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Jutta Allmendiger / Jan Wetzel: Die Vertrauensfrage – Für eine neue Politik des Zusammenhalts

15.10.2020
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Autorenprofil
Dr. Thomas Mirbach
Berlin, Dudenverlag 2020

Gewiss nicht zufällig stellen Bedenken über mögliche Grenzen des sozialen Zusammenhalts ein wiederkehrendes Motiv gesellschaftlicher Zeitdiagnosen dar. Dabei gelten in erster Linie soziale – also strukturell und institutionell bedingte – Spaltungen als aktuelle Bedrohungen von Demokratie (vgl. neuerdings Michael Sandel 2020). In diesen Kontext ist auch die sogenannte Vermächtnisstudie – von ihren Initiatoren als Seismograf gesellschaftlicher Entwicklungen in allen Lebensbereichen verstanden – einzuordnen. Den dabei durchgeführten Erhebungen lag eine ebenso ambitionierte wie weit gefasste Fragestellung zugrunde: „Wenn Sie an Ihr ganzes Leben denken, an Ihre Erfahrungen, Erlebnisse und gewonnenen Erkenntnisse: Was davon würden Sie künftigen Generationen gern weitergeben? Was empfehlen Sie einer zukünftigen Gesellschaft? Wovon raten Sie eher ab?“ (3)

Die in zwei Wellen – mit 3.104 (2015) und 2.070 (2018) Befragten – von DIE ZEIT, dem Institut für angewandte Sozialwissenschaften (infas) und dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) konzipierte und finanzierte Erhebung war von einiger Publizität begleitet. Dazu trugen die Homepage von DIE ZEIT (https://www.zeit.de/serie/das-vermaechtnis), begleitende Publikationen des WZB (Patricia Wratil unter anderem 2017) und des infas (2019) ebenso bei wie die zusammenfassende Interpretation der Ergebnisse der ersten Erhebungswelle von Jutta Allmendinger (2017). In diesem Essay greifen Jutta Allmendinger und Jan Wetzel vor allem Befunde der zweiten Erhebungswelle auf und rücken dabei das Verhältnis von wechselseitigem Vertrauen und sozialer Integration in den Mittelpunkt. Dem Aufbau und Duktus nach wendet sich das Buch in erster Linie an eine breitere, politisch interessierte Leserschaft und weniger an ein soziologisch geschultes Publikum.

Das zeigt sich schon an dem ersten einführenden Kapitel, mit dem – unter sparsamen Verweisen auf die Fachdiskussion – das der Studie zugrundeliegende Konzept des Vertrauens erläutert wird. Anders als in vielen Untersuchungen der vergleichenden Politikforschung, die sich eher auf Ausprägungen eines generalisierten Vertrauens (gegenüber anderen oder Institutionen) beziehen, orientiert sich die Vermächtnisstudie an einem relationalen Verständnis von Vertrauen (20 ff.). Damit rücken unterschiedliche Kontextbedingungen, von denen Vertrauen abhängt – Sozialkapital, sozialer Raum, Verteilung von und Zugang zu Ressourcen – in den Vordergrund. In zeitdiagnostischer Perspektive wird dann das Verhältnis von dem „kleinen Wir“, dem Selbstbild im personalen Nahbereich, zu dem „großen Wir“, den Meinungen über die Mehrheit der anderen relevant: „Eine demokratische Gesellschaft beruht nicht darauf, dass alle das Gleiche denken […]. Im Gegenteil, sie beruht auf Vielfalt. Für eine Demokratie, die von der Teilhabe aller lebt, braucht es aber ein gemeinsames Verständnis von den Bezugspunkten des Zusammenlebens“ (25). Nicht Pluralität also bedroht den gesellschaftlichen Zusammenhalt; eine kritische Frage stellt jedoch dar, ob es bei wichtigen Themen zu dauerhaften Entkoppelungen kommt „zwischen dem, was die Menschen über sich und über die Mitmenschen sagen“ (27). Das ist in Deutschland – wie der Blick auf die Daten zeigt – durchaus der Fall, auch wenn von einem generellen Vertrauensverlust nicht die Rede sein kann.

Im zweiten Kapitel werden auf Basis der Erhebungen einige zentrale Befunde vorgestellt (32 ff.). Auffällig ist zunächst, wie weit Selbstvertrauen – als Voraussetzung, Vertrauen zu anderen aufbauen zu können – mit meritokratischen Überzeugungen verbunden ist und in welchem Umfang damit zugleich strukturell ungleiche Lebenschancen individualisiert werden (36). Große Mehrheiten (jeweils zwischen 70 und 80 Prozent) sind nämlich der Meinung, der Verlauf ihres Lebens hänge von ihnen selbst ab, und ebenso werden unterschiedliche Erfolge in der Beteiligung an der Erwerbsgesellschaft auf individuelle Leistungsunterschiede zurückgeführt. Von dieser Selbstwahrnehmung weicht lediglich eine Minderheit (etwa 13 Prozent) ab; diese Gruppe lässt sich sozialstrukturell eindeutig beschreiben: Überwiegend Personen ohne mittleren Schulabschluss oder Ausbildung; insgesamt erweist sich von allen sozialstrukturellen Einflüssen Bildung als der wichtigste Faktor (37).

Abhängigkeiten von sozialstrukturell vermittelten Kontextfaktoren zeigen sich bei einer Analyse von Bekanntschaften und Kommunikationen im sozialen Nahbereich – dem „kleinen Wir“ – noch differenzierter. Möglichkeiten im vertrauten Kreis mit Menschen anderer Hautfarbe, Nationalität oder Muttersprache zusammenzukommen, erhöhen sich einerseits deutlich mit dem Bildungsgrad, andererseits mit westdeutscher (gegenüber ostdeutscher) Herkunft (43). Das hat der Studie zufolge Konsequenzen für den sozialen Zusammenhalt. Ein generalisiertes Vertrauen in andere ist einerseits bei Menschen mit mittlerer oder guter Bildung und andererseits solchen mit dauerhafter gesellschaftlicher Partizipation (beispielsweise im Rahmen bürgerschaftlichen Engagements) deutlich stärker ausgeprägt (52 ff.). Bei der Diskussion der Vertrauensfrage im engeren Sinne – also dem Unterscheid zwischen Selbstbeurteilung und Gesellschaftsbild – ergeben sich zwar keine Belege eines durchgängigen Verlustes von Vertrauen in andere, wohl aber Diskrepanzen bei wichtigen und strittigen gesellschaftlichen Fragen. Zusammenfassend gesprochen lassen sich diese Diskrepanzen so lesen, dass die Befragten bei den Themen Familie, Arbeit, Fortschritt und Solidarität vertrauenswürdiges, also kooperatives und wertkonformes Verhalten in der Tendenz eher bei sich selbst als bei anderen sehen (59 ff.).

Es handelt sich dabei wohlgemerkt um Wahrnehmungen, die – so der Vorschlag von Allmendinger/Wetzel – nicht Eigenschaften von Personen abbilden, sondern auf institutionelle Lücken hinweisen, im Sinne von Pierre Rosanvallon (2017) Ausdruck eines Schwindens der sozialen Bürgerschaft sind. Angesichts der faktisch zu hohen Spreizung in Einkommen, Vermögen und Lebenschancen ist die Vertrauensfrage wesentlich eine Verteilungsfrage (76).

Davon ausgehend werden im dritten Kapitel (74 ff.) Grundzüge einer Politik des Vertrauens entworfen, die entschieden einer Entwicklung entgegenzusteuern hätte, „die seit Jahrzehnten ungebremst im Gange ist“ (76 f.). Diese Entwicklung betrifft – um nur Stichworte zu nennen – Verdrängungsprozesse in gentrifizierten Großstädten, Abwanderungen aus ländlichen Räumen, Mitgliederschwund von Parteien und Gewerkschaften und die zunehmende Heterogenisierung des Beschäftigungssystems bei gleichzeitig fortbestehender geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung. Sinnvolle institutionelle Antworten auf diese Probleme sind bereits Themen einschlägiger Debatten. Allmendinger/Wetzel heben dabei einerseits eine auf die Schaffung gemeinsamer Räume ausgerichtete Infrastrukturpolitik hervor (Wohnungsbau, öffentlicher Raum, Verkehr) und andererseits Modelle des Bürgereinkommens, der Bürgerversicherung und der Einführung einer Normalarbeitszeit von 32 Wochenstunden.

 

Fazit

Der Essay bietet auf der Basis der durchgeführten Erhebungen anregende Deutungen des Verhältnisses von Selbstbeurteilung und Gesellschaftsbild in Deutschland – dies zumal mit Blick auf die durch zunehmende soziale Ungleichheit erzeugte Vielfalt von „Normalitäten“, zwischen denen nur geringe Kontakte bestehen. Der übergreifende Interpretationsrahmen – die Vertrauensfrage als Verteilungsfrage – ist plausibel und wird von etlichen einschlägigen Studien gestützt. Ähnliches gilt für die formulierten Vorschläge einer „Politik des Vertrauens“ – auch wenn sich deren einzelne Bausteine nicht aus den empirischen Daten ableiten lassen.

 



Literatur

Allmendinger, Jutta (2017): Das Land, in dem wir leben wollen. Wie die Deutschen sich ihre Zukunft vorstellen. München Pantheon Verlag

Infas (2019): Das Vermächtnis. Wie wir leben wollen und was wir dafür tun müssen. Ergebnisse 2019 (https://www.infas.de/fileadmin/user_upload/PDF/2019_ZEIT_VermaechtnisStudie_Broschuere.pdf; Abruf 27.09.2020)

Rosanvallon, Pierre (2017): Die Gesellschaft der Gleichen. Hamburg Hamburger Edition

Sandel, Michael (2020): Die Lüge vom gemeinsamen Boot. Interview mit Adrian Kreye. In: Süddeutsche Zeitung vom 22.09.2020, S. 9 (https://epaper.sueddeutsche.de/webreader-v3/index.html#/795363/9; Abruf 28.09.2020)

Wratil, Patricia / Georg Helbing / Olga Wiens (2017): Forschungsbericht I. Ergebnisse der Vermächtnisstudie – ein erster Überblick. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Discussion Paper P 2017-006

 

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Pierre Rosanvallon

Die Gesellschaft der Gleichen. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt

Hamburg: Hamburger Edition 2013 ; 384 S. ; geb., 33,- €; ISBN 978-3-86854-257-8
Wir leben – so beginnt der französische Sozialphilosoph seine neue Studie eindringlich – in den Zeiten eines säkularen Bruchs, in der Demokratie wohl als politische, aber kaum noch als soziale Form praktiziert wird. Wesentliche Triebfeder dieser Entwicklung, die über Trennungs‑, Abgrenzungs‑ und Ghettoisierungsmechanismen die Grundlagen des Gemeinwesens gefährdet, ist der rasante Anstieg von Ungleichheiten. Und obschon zahlreiche Untersuchungen diese skandalösen Spaltungs...weiterlesen

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