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Gilles Kepel: Chaos. Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen

05.05.2020
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Autorenprofil
Michael Rohschürmann
München, Antje Kunstmann 2019

Das Buch des französischen Soziologen und Arabisten Gilles Kepel kann durchaus als sein Opus magnum angesehen werden, fasst es doch die Erfahrungen seiner inzwischen 40-jährigen Beschäftigung mit den muslimischen Ländern des Mittelmeerraumes zusammen. So ist auch Kepels Anspruch alles andere als bescheiden, will er doch die gesamte politisch-religiöse, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des Nahen Ostens, des Irans und Nordafrikas seit 1973 beschreiben – alles unter dem passenden Titel „Chaos“.

Entsprechend beginnt er seine große Erzählung mit dem – aus arabischer Sicht – desaströsen Ausgang des „Oktoberkrieges“ (1973). Einerseits hatten die dauernden Niederlagen gegen Israel die alten, aus den Unabhängigkeitsbewegungen hervorgegangenen Eliten des Nahen Ostens diskreditiert (26), andererseits bot sich mit dem Erdölexport ein wichtiges wirtschaftliches Instrument. „Damit war die entscheidende Waffe gefunden – sie wahrte den arabischen Kriegsführern auf dem Schlachtfeld das Gesicht und sorgte über diese politisch-militärische Episode hinaus für eine Erschütterung der Weltordnung.“ (30)

Quasi nebenbei verhalf die gestiegene Bedeutung des Öls vor allem den Golf-Monarchien zu Reichtum. Dies wiederum erlaubte ihnen, eine nie dagewesene Missionsbewegung zu starten, um ihre (radikale) Auslegung des Islam weltweit zu propagieren. Erst mit der iranischen Revolution entstand ein Gegenspieler – verkörpert durch Ayatollah Khomeini –, der eine alternative, stark an schiitischen Vorstellungen orientierte Auslegung vertrat und damit ebenfalls große Propagandaerfolge erzielte. Der alte Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten wurde – nun erweitert um die regionale Konkurrenz zwischen Saudi-Arabien und Iran – neu entfacht.

Da die alten Eliten nach dem Oktoberkrieg weitgehend diskreditiert waren, drangen zunehmend islamistische Bewegungen in das Vakuum vor. In der Folge von Islamisierung und Radikalisierung entluden sich neue und alte Konflikte bald in verschiedenen kriegerischen Konflikten sowohl zwischen den islamischen Konfessionen als auch zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen.

„Während das sowjetische Regime und die kommunistische Ideologie Ende 1989 in sich zusammenbrachen, eilte der politische Islamismus von Sieg zu Sieg – angefangen bei seiner Rolle beim Triumph über die Rote Armee in Kabul bis hin zur Machtübernahme in Khartum. Hinzu kamen die Affären rund um Rushdie in Großbritannien und den Schleier in Frankreich, bei denen der Islam in Bereiche der säkularisierten Kultur zweier europäischer Demokratien eindrang, um religiöse Werte umzusetzen.“ (72 f.)

Will man – wie Kepel – die erste Generation von Dschihadisten in Afghanistan ansetzen und sieht al-Qaida und deren Anhänger nach 2001 als zweite Generation, dann stellt der Islamische Staat (IS) eine dritte Generation dar, die sich wiederum mit einer neuen Strategie von ihren Vorgängern abgrenzte. „Trotz der unveränderten Rhetorik Zawahiris hatte sich das dschihadistische Modell wandeln müssen und stützte sich jetzt auf Attentäter, die aus den anvisierten westlichen Ländern selbst stammten. Dies führte zu einem neuen Vorgehen des Terrorismus, der die beiden ersten Phasen und den Widerspruch zwischen dem ‚nahen Feind‘ und dem ‚weit entfernten Feind‘ überwand. Das neue Modell sollte das kommende Jahrzehnt prägen.“ (138)

Die militärische Niederlage des IS (2017) hat die Gewalt aktuell verringert. Mit dem Wegfall des gemeinsamen Feindes IS brechen aber wieder alle alten Konflikte auf und der zwischen Sunniten und Schiiten wurde noch weiter verschärft. Mit Russland hat zudem eine neue (alte) Großmacht die Region betreten und macht den USA ihre Rolle als Ordnungsmacht streitig, die sie in den vergangenen Jahren sowieso immer schlechter ausfüllen konnte. Auch mit dem Ende des Kalifats ist ein dauerhafter Friede im Nahen Osten noch weit entfernt.

Zudem beleuchtet der Autor eingehend die unterschiedlichen Ursachen und Ergebnisse des sogenannten „Arabischen Frühlings“ sowie die westliche Hilflosigkeit gegenüber den Ereignissen und ihren Folgen. Kepel hält eine Lösung ohne politische Konzepte und internationale Abstimmungen für undenkbar. „Der Wiederaufbau setzt eine politische Lösung voraus, die zum jetzigen Stand (Juli 2019) davon abhängt, wie sich die Kräfteverhältnisse vor Ort entwickeln und ob Russland und die westlichen Staaten als Garanten für einen Friedensprozess einen Konsens zur Zukunft Syriens erzielen. Mit ihr steht und fällt eine gelungene Wiedereingliederung der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens in die Weltordnung.“ (442)

Das Buch ist sehr flüssig und verständlich geschrieben. Zudem ist es gut strukturiert und logisch aufgebaut, dennoch verlangt der Autor seinen Leser*innen einiges ab. Nicht nur die Fülle an Stoff, der zeitliche Rahmen, den er behandelt, sondern auch das Vorwissen, das er voraussetzen muss, um ein Buch und keine islamwissenschaftliche Fachbibliothek zu schreiben, erfordern Leser*innen, die sich in der Materie bereits auskennen und in der Lage sind, verschiedene Gruppierungen mit deren Hintergründen auseinanderzuhalten. Wer sich aber darauf einlässt, wird belohnt: Kepel ist eine hervorragende und kenntnisreiche Darstellung der vergangenen Jahrzehnte und der Ursachen des heutigen Chaos im Nahen Osten gelungen.

 

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Marc Lynch, der Erfinder des Begriffs „Arabischer Frühling“, legt eine Bewertung der Aufstandsbewegungen in der arabischen Welt nach 2011 vor. In neun Kapiteln arbeitet er die sozialen und politischen Entwicklungen in den Aufstandsländern, die Interessenlagen der Regionalmächte und die Rolle der USA heraus. Auch geht er auf die Muslimbruderschaft ein, die er als ein Bollwerk gegen radikalere dschihadistische Kräfte einschätzt. Nach dem Scheitern der ersten Rebellion und angesichts der äußerst instabilen politischen Landschaft seien weitere und gewaltsamere Aufstände zu erwarten.
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