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Sebastian Dregger: Die Verfassungsinterpretation am US-Supreme Court

09.10.2019
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Autorenprofil
Prof. Dr. Robert Chr. van Ooyen
Baden-Baden, Nomos 2019

Die (Verfassungs-)Rechtsprechung enthält ein dezionistisches Element der Rechtsschöpfung (Hans Kelsen); ihre „Deutungsmacht“ (Hans Vorländer) wird von den Akteur*innen unter anderem durch die Interpretation unbestimmter Begriffe und die Methodenwahl rechtspolitisch gesteuert. In den USA ist eine Kontroverse zwischen den beiden Großtheorien Originalism und Living Constitution entbrannt, die „bei vielen Beobachtern [...] als die momentan wichtigste im Hinblick auf Bewertung, Revision und Fortentwicklung der amerikanischen Bundesverfassung durch den Supreme Court [gilt]“ (19). Sie wird auch mittels der Lobby-Netzwerke zweier Verfassungsgesellschaften ausgetragen. Von jeher ist in den USA die Durchdringung von Politik und Recht der demokratischen Öffentlichkeit bewusster und daher auch konfliktorientierter. Hier weiß man jenseits der Fachzirkel, welchen politischen Einfluss Richtervorverständnisse auf die Supreme Court-Judikatur haben können, sodass sie bei der Nominierung im Unterschied etwa zu dem beim Bundesverfassungsgericht üblichen Verfahren in „hearings“ offengelegt werden müssen.

Zwar hat sich inzwischen auch in der Bundesrepublik (wieder) eine politikwissenschaftliche Forschung zu Politik, Recht und Verfassungsgerichtsbarkeit herausgebildet; Arbeiten zu anderen Staaten, selbst den USA, gibt es jenseits der älteren von Ernst Fraenkel und Karl Loewenstein jedoch kaum. Das hat auch damit zu tun, dass die Politikwissenschaft auf der Suche nach ihrem eigenen Gegenstand ausgerechnet den Bezug zum (Verfassungs-)Recht und die hiermit einhergehende Kompetenz verloren hat, obwohl gerade die politische Kultur in Deutschland Konflikte formalistisch in juristische umwandelt (Kurt Sontheimer) – und so Macht organisiert und ausgeübt wird.

Schon deshalb ist die von Sebastian Dregger an der Universität Eichstätt-Ingolstadt eingereichte Dissertation (Gutachter: Klaus Stüwe, Roland Lhotta) positiv hervorzuheben. Nach einer Klärung der akademischen Grundpositionen der beiden Verfassungstheorien und ihrem jeweiligen Verhältnis zu Konservativismus beziehungsweise Liberalismus geht es um die Frage, wie sie sich in den Positionen der Richtern*innen widerspiegeln und die Rechtsprechung beeinflusst haben. Abschließend will Dregger anhand seines Befunds die vier zentralen US-amerikanischen politikwissenschaftlichen Theorien über die Einflussfaktoren des Supreme Courts im politischen System prüfen: Legal Model, Attitudinal Model, Strategic Model und New Institutionalism. Als Untersuchungszeitraum wurden die Jahre 1987 bis 2014 gewählt, da es infolge der konservativen Richterernennungen der Reagan-Ära zu einem „Wechsel der grundlegenden Verfassungsphilosophie“ gekommen sein könnte: „vom Warren- und Burger-Court, die tendenziell der Living Constitution zugeneigt waren, zum Rehnquist- und Roberts-Court, die sich verstärkt am Originalism orientieren“ (33). Generell zielten die „Originalisten“ auf eine Zügelung der Macht des Supreme Courts gegenüber den „demokratischeren“ Gewalten der Legislative und Exekutive durch strenge Rückbesinnung und Beschränkung auf den ursprünglichen Bedeutungsgehalt der Verfassungsbestimmungen. Living Constitution hingegen würde im Prozess von Checks and Balances stark auf richterliche Rechtsfortbildungen setzen, da nur so Demokratie sowie Menschen- und Bürgerrechte gegenüber Kongress und Präsident der Zeit angepasst dauerhaft geschützt werden könnten. Bei der Unterscheidung „liberal“ und „konservativ“ folgt Dregger der in der amerikanischen Debatte üblichen Trias der Einstellungen zu Eingriffen in Grundrechte, zur Wirtschaftsregulierung sowie föderalen Kompetenzverteilung. Dregger stellt im ersten Teil fest, dass die „Klassiker“ von Living Constitution grundsätzlich „deutlich liberaler“ (158) sind, namentlich bei Fragen des ersten Zusatzartikels, der Minderheitenklausel Equal Protection und den föderalen Kompetenzverschiebungen des New Deals von Franklin D. Roosevelt.

Im nächsten Hauptteil erfolgt die Einordnung der Positionen der Richter*innen des „Rehnquist-„ und „Roberts-Courts“ von William Brennan bis Elena Kagan anhand ihrer wissenschaftlichen Publikationen und Urteile in Landmark-Decisions. Nur Antonin Scalia und Clarence Thomas ließen sich dabei überhaupt, nämlich den Originalists zuordnen; mit Einschränkung gelte das für William Brennan als Vertreter von Living Constitution. Alle anderen betonten dagegen sehr unterschiedlich das Common-Law-Denken und dessen an Präzedenzfällen ausgerichteten Zugang oder ließen sich nicht zuordnen. Die Richter*innen betonten zudem, dass jenseits der juristischen Interpretation die „Faktenwertung, [...] Sicherstellung der Umsetzung der Urteile durch die anderen beiden Staatsgewalten sowie die Gewinnung einer Richtermehrheit“ eine Rolle spielten (234).

Die Auswahl der im nächsten Hauptteil untersuchten 28 Landmark-Decisions folgt der Kommentierung in der „Havard Law Review“. Als Ergebnis stellt Dregger fest, dass die Ansätze entgegen ihrer Bedeutung in der akademischen Debatte in vielen Urteilen überhaupt keine und ansonsten „niemals alleine“ (416) eine Rolle spielten; zudem ließe sich feststellen, dass sowohl die liberalen als auch die konservativen Richter*innen jeweils beide Ansätze nutzten. Das gelte selbst für Clarence Thomas und Antonin Scalia, die bisweilen auch auf Begründungsmuster von Living Constitution zurückgriffen. Die meisten Fälle würden überhaupt mit „einer einfachen Begründungsstruktur“ (422) durch Arbeiten an Präzedenzfällen und anhand der Einschätzung der Faktenlage gelöst; eine klare politische Ausrichtung sei zudem bei einer Reihe von Entscheidungen gar nicht feststellbar. Das bestätigt, so kann ergänzt werden, dass Theorien in der (anglo-)amerikanischen Rechtspraxis infolge der pragmatischeren (Rechts-)Kultur generell eine geringere Rolle spielen. Dieses grundsätzliche Muster der Urteilsbegründungen würde nur bei Bedarf überhaupt um zusätzliche Arten erweitert, bis hin zum eher seltenen „Begründungsfeuerwerk“ (422) in außerordentlichen Fällen. Dabei ließen sich aber die einzelnen Ansätze bei Mehrheits- und Minderheitsvotum zugleich beobachten. Insgesamt lasse sich dieser Befund am besten mit dem New Institutionalism erklären: Das Gericht vermeide im Unterschied zur akademischen Kontroverse eine Zuspitzung verfassungstheoretischer Konflikte, um seine auf Vertrauen und Überzeugungskraft ruhende Position in der „Öffentlichkeit und innerhalb der Legal Community“ nicht selbst unnötig zu untergraben und sich durch Begründungsfeuerwerke „angreifbarer“ zu machen (430 f.). Es erscheine dann als „über“ den Lagern stehende Deutungsmacht. Das ist ein machtpolitisches Kalkül, mit dem auf seine Weise auch das Bundesverfassungsgericht arbeitet.

Dreggers Arbeit ist wie eine Reihe neuerer Qualifikationsschriften stellenweise zu detailliert geraten – muss doch eine politikwissenschaftliche These auf 200 bis 300 Seiten pointiert dargestellt werden können (so gerät der Teil über die akademische Debatte mit 120 Seiten schon zu einem Buch im Buch, der für den weiteren Gang der Untersuchung so gar nicht erforderlich gewesen wäre). Abgesehen hiervon ragt sie heraus und zeigt exemplarisch einen Bereich der Leistungsfähigkeit politikwissenschaftlicher Analyse zur Verfassungsgerichtsbarkeit, die sich kompetent an den Gegenstand „Recht“ traut. Sie trägt dazu bei, das Verfassungsrecht nicht den Jurist*innen zu überlassen – denn dafür ist es im politischen System zu wichtig.

 

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