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Alexander Amberger / Thomas Möbius (Hrsg.): Auf Utopias Spuren. Utopie und Utopieforschung

28.07.2017
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Dr. phil. Tamara Ehs

auf utopias spurenWiesbaden, Springer VS 2107 (Technikzünfte, Wissenschaft und Gesellschaft)

 

Der italienische Historiker Enzo Traverso konstatierte für die erste Dekade des neuen Jahrtausends: „The twenty-first century is born as a time shaped by a general eclipse of utopias.” Immerhin habe der Zerfall der sozialistischen Regime auch das utopische Denken verdunkelt. 1989 habe folglich weniger das „Ende der Geschichte“ als vielmehr das Ende der Utopien markiert. Der Politologe und Utopieforscher Richard Saage konnte diesem Abgesang stets wenig abgewinnen; und so sehen es auch seine geistigen Schüler Alexander Amberger und Thomas Möbius, die im Vorwort dieser Festschrift zum 75. Geburtstag festhalten: „Das vor 25 Jahren ausgerufene ‚Ende der Utopien‘ [...] war von Anfang an mehr ideologische Parole als ideengeschichtliche Realität“ (5). Sie versammeln daher Utopieforscher*innen aller Disziplinen, um zu fragen, was 500 Jahre nach der Ersterscheinung von Thomas Morus‘ Utopia noch übrig ist von jener „Form von Zukunftserwartung, ja eines Weltverhaltens überhaupt“, wie der Germanist Jürgen Teller einst die literarisch-politische Gattung umschrieb.

Utopien haben in Krisenzeiten Hochsaison; und Krisen gibt es derzeit genug. Somit sind Sehnsucht und Suche nach Alternativen wieder im Fokus der Aufmerksamkeit. Amberger und Möbius bieten einen grundlegenden Überblick, wie alternative Gesellschaftsentwürfe die Ideengeschichte sowie auch die politische Praxis beeinflusst haben. Von Konfuzius über Benedetto Croce, von der Arbeiterbewegung über das Rote Wien bis zur DDR, vom wilhelminischen Deutschland über den Film Avatar bis zur zeitgenössischen Architektur spannen sie den Bogen, um den Kern jeglicher Utopie herauszuarbeiten: deren emanzipatives Potenzial. Bei allen Ausführungen wird stets die politische Sprengkraft des utopischen Imaginierens deutlich: Wer eine Utopie des guten Lebens entwirft, entfacht das Begehren danach. Und diese neuen und künftig möglichen Wirklichkeiten stellen per se eine Gefahr für die bisherige Wirklichkeit und vor allem für ihre Machthaber*innen dar. Denn die Vorstellung vom guten Leben zieht politische Leidenschaften nach sich. Die Utopie ist eine Diesseitsvorstellung, eine Diesseitsunternehmung; die Menschen selbst haben es in der Hand, gemeinsam eine neue (Gesellschafts-)Ordnung zu gestalten, woanders beziehungsweise wannanders. War Utopie bei Morus noch eine ferne Insel, so ist sie nun ein Zukunftsentwurf. „Die Vorstellung von Utopie mutiert von Örtlichkeit in Zeitlichkeit“ (8), wie Dan Diner in seinem einleitenden Beitrag richtig anmerkt.

Hierin liegt vielleicht der wesentliche Wert dieses Buches: sich der Utopien zu erinnern, um das demokratische Wünschen an sich wieder zu entfachen. Denn was uns heute oft fehlt und welcher Mangel die monierte Politikverdrossenheit befördert, ist die utopische Einbildungskraft. Nachdem uns seit 1989 die herrschende Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung als alternativlos angepriesen wurde, sind wir kaum mehr geübt, in Alternativen zu denken. Die utopische Vorstellungskraft wurde uns durch Sachzwanglogik und durch die entpolitisierend wirkende Rede von der Alternativlosigkeit weitgehend ausgetrieben. Es scheint daher fast wie aus der Zeit gefallen, wenn Amberger in seinem Textbeitrag an die Schriften des Kommunisten und DDR-Regimekritikers Robert Havemann erinnert, der einst schrieb: „Alles Neue, alle Veränderung, die wir schaffen, entsprang unseren Wünschen und war davor – oft lange davor – in unseren Gedanken schon längst phantastische Wirklichkeit“ (240). Manch (N-)Ostalgie ist daher weniger Verklärung oder diffuse Sehnsucht nach einer wie gut auch immer gewesenen alten Zeit, sondern Nostalgie ist eine „retrospektive Utopie“, wie der Kulturwissenschafter Mitja Velikonja meint, eine Sehnsucht nach der Zeit, als es noch Hoffnung gab, dass alles besser, ja vielleicht sogar gut werde, als es Zukunft gab.

Diese Zukunftsentwürfe erinnern die Autor*innen und machen sie für die Gegenwart fruchtbar. So arbeitet die Politologin Barbara Holland-Cunz aus Morus‘ Schrift die Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit heraus und weist auf die bis heute uneingelösten politischen Dimensionen von Care- und Sorgearbeit hin. Der Philosoph Axel Rüdiger wiederum beschäftigt sich mit einer um das Jahr 1800 entworfenen Utopie des bedingungslosen Grundeinkommens. Sie alle umschreiben in ihren Beiträgen, was Politik eigentlich kennzeichnet, nämlich Alternativen zu eröffnen, mit Hannah Arendt gesprochen: neue Anfänge in die Welt zu werfen, Zukunft zu generieren, eigentlich Zukünfte.

Was dem Buch abschließend fehlt, wäre eine Neubewertung der Utopie als Örtlichkeit. Denn obwohl wir heute Utopien allgemein mit Zukunftsentwürfen, also mit Zeitlichkeit gleichsetzen, gibt es doch (wieder) auch Utopia als zu erreichenden Sehnsuchtsort: Schutzsuchende aus Kriegsgebieten oder aus durch Kolonialismus wirtschaftlich verwüsteten Staaten begehren, nach Europa zu gelangen. Für sie ist Europa der Ort des guten oder zumindest sicheren Lebens, der Hafen, den es zu erreichen gilt. Eine zeitgenössische Utopieforschung sollte diesen Aspekt aufgreifen.

 

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