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Bassam Tibi

Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft

München: C. Bertelsmann 1998; 380 S.; 46,90 DM; ISBN 3-570-00169-5
Tibi geht davon aus, daß sich Europa in tiefer Verunsicherung und einer Sinnkrise befinde, die letztlich die Frage nach der Identität des Kontinents münde. Gerade bei einem Dialog mit dem Islam und der Tatsache zunehmender Einwanderung werde die Frage nach der Identität Europas besonders dringlich. Bislang sei die Diskussion aber durch ein Schwanken zwischen Extremen gekennzeichnet: "Ist die Alternative zum arroganten, missionarischen und herrschsüchtigen Europa ein sich verleugnendes Europa, das kniefällig in Demut um Vergebung für seine Vergangenheit bittet? Oder gibt es eine dritte Alternative [...]?" (16) Zur Illustration seiner Thesen zieht Tibi eine Fülle persönlicher Erlebnisse heran - überhaupt ist das ganze Buch sehr persönlich gehalten (einige Aspekte seines Engagements in den sechziger Jahren deutet er als "intellektuelle Pubertät" [40]), was Tibi jedoch gerade nicht als Gegensatz zur Sachlichkeit seiner Aussagen verstanden wissen will. Dabei wehrt er sich mehrmals gegen die "Verordnung eines Maulkorbs der Political Correctness" (45 f.) als anderes Extrem zum Eurozentrismus. Er warnt vor "Europa als Multi-Kulti-Sammelwohngebiet ohne eigene Identität" (28). Europa brauche vielmehr eine verbindliche "Leitkultur" (49), deren Kern Tibi mit den Werten der "kulturellen Moderne" (34) kennzeichnet, die er an einer Stelle als "Subjektivitätsprinzip" im Sinne von Habermas (34) definiert und dann unter anderem als "säkulare Demokratie, Menschenrechte, Primat der Vernunft gegenüber Religion, Trennung von Religion und Politik in einer zugleich normativ wie institutionell untermauerten Zivilgesellschaft [...]" (56) auffächert. Es gelte, sich dieser Grundlagen bewußt zu werden, um im interkulturellen Dialog überhaupt anerkannt zu werden und Standards der Freiheit nicht unter der vermeintlichen Toleranz eines Kultur- und Werterelativismus zu opfern. Für eine gelingende Integration müsse deshalb auch der Islam Wandlungen durchgehen, deren Zielperspektive Tibi als "Euro-Islam" (257) bezeichnet: "Die Scharia würde mit der säkularen Identität Europas kollidieren [...]" (182). In diesem Sinne will er weniger auf eine multikulturelle als vielmehr auf eine "pluri-kulturelle" (133) Basis Europas hinaus: "Normalität ist gefragt! Zur Normalität gehören Selbstwert und Zivilisationsbewußtsein, also keine Selbstaufgabe, sondern die Verteidigung der positiven Errungenschaften der eigenen Zivilisation." (351) Tibi spricht in der Tat ein ernstzunehmendes Problem des interkulturellen Dialoges an; in der Analyse der europäischen Sinnkrise beruft er sich jedoch meist auf Beispiele aus Deutschland: "Bestimmte deutsche Gesinnungsethiker halten sogar Selbsterhaltung des eigenen demokratischen Gemeinwesens für Rassismus." (54) Über die Repräsentativität solcher Haltungen für Europa und Deutschland ließe sich sicher diskutieren.
Manuel Fröhlich (MF)
Prof. Dr., Juniorprofessur für Politikwissenschaft, Universität Jena (www.manuel-froehlich.de).
Rubrizierung: 2.23 | 4.42 | 5.43 Empfohlene Zitierweise: Manuel Fröhlich, Rezension zu: Bassam Tibi: Europa ohne Identität? München: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/6736-europa-ohne-identitaet_9075, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 9075 Rezension drucken