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Lutz Niethammer

Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur

Reinbek: Rowohlt 2000 (rowohlts enzyklopädie); 680 S.; 32,90 DM; ISBN 3-499-55594-8
Der moderne Begriff "kollektive Identität" verberge in seiner Strukturlosigkeit so viele gefährliche Irritationen, dass es am Besten wäre, wenn wir ihn aus unserem politischen Wortschatz einfach streichen, so der Historiker Niethammer in der Zusammenfassung dieses Buches (627). Natürlich ist sich der Autor der Vergeblichkeit eines solchen Versuches völlig bewusst: Obwohl der Begriff wenig auszusagen vermag, gehöre er heutzutage zu den unverzichtbaren "magische[n] Formeln" (625) der weltweiten Medien-, Politiker- und Intellektuellen-Konjunktur. Ausgerechnet die Strukturlosigkeit verleihe dem Begriff die Stärke: Er verbirgt und betont "etwas unsagbar Wesentliches" (625). Auf nationaler und transnationaler Ebene finde er nur dann Verwendung, wenn die Gesellschaft "etwas anderes will, als das Recht regelt, entweder ein Kollektivsubjekt konstituieren, das im positiven Recht keine Stütze hat, oder seinen Angehörigen Aufgaben zuweisen, die diesseits oder jenseits rechtlicher Regelungen liegen". Jede Identitätsbestimmung spiele bewusst oder unbewusst eine Vermittlerrolle zwischen Kultur und Gewalt und da steckt die eigentliche Gefahr dieser sozialen Konstruktion; denn "einen Schutz vor dem unbewussten Hinübergleiten aus der harmlos erscheinenden Forderung nach kultureller oder politischer Identität in die Legitimation von Gewalt" gebe es nicht (626). Nachdem Niethammer sich im ersten Teil mit dem "Plastikwort" Identität auseinandergesetzt hat, macht er sich auf die "Spurensuche" nach dessen Ursprüngen, um Beweismaterialen für seine Vermutung zu finden, dass "der Begriff der kollektiven Identität auf andere Entstehungszusammenhänge zurückverweist und also andere Bedeutungen mit sich schleppt, als man heute mit der Unschuld der Unkenntnis unterstellt" (71). Auf dieser Suche habe ihm besonders geholfen, so der Autor, dass er ein Historiker sei und er das für seine Zunft charakteristische Vorurteil habe, statt die Grenzen eines Begriffes festzusetzen, seine Reichweite in der Zeit zu suchen: "Vielmehr legte ich philosophische Scheuklappen an und folgte – sozusagen mit hochgeschlagenem Mantelkragen im Nebel der Geistesgeschichte – meiner Identitäter-Spur, hatte ich doch keinen anderen Anhaltspunkt, als das Wort; denn das Wort war ja das einzige, was die vielen unterschiedlichen Bedeutungszusammenhänge verband und was die Möglichkeiten ihrer Konjunktur in der Gegenwart ausmachte." (72) Für diese fast "kriminalistische" Untersuchung wählt Niethammer sieben prominente Autoren aus (Carl Schmitt, C. G. Jung, Georg Lucács, Sigmund Freud, Erik Erikson, Maurice Halbwachs und Aldous Huxley), "aus deren Schriften an versteckten Stellen das Tatwerkzeug aufblitzte" (72). Dabei berücksichtigt der Autor nicht nur die jeweilige politische/soziale Situation, sondern versucht auch die persönlichen Motive jedes einzelnen Autors (z. B. die schwierige Beziehung Jungs zu seinem Lehrer Freud) für die Beschäftigung mit der Identitätsthematik herauszufinden. Niethammer weiß, dass die knapp 650 Seiten Suche nach den Ursprüngen der heutigen Identitätskonjunktur, die er "nicht in abgekürzter und systematisierender Form" veröffentlicht, für manchen ermüdend erscheinen können. Es sei aber viel wichtiger, dass Interessierte "unvermutete Fundstücke und Anregungen für eigene Geisterfahrten ins frühe 20. Jahrhundert" finden (74). Trotz der fehlenden Systematik ist das Buch nicht zuletzt wegen seines literarischen Stils eine anregende Lektüre. Aus dem Inhalt: I. Annäherung an ein Plastikwort; II. Wurzeln und Blüten. Spurensuche zwischen Religion, Revolution und Rasse: 1. Das objektive Subjekt der Politik: 1.1 Demokratische Diktatur. In Carl Schmitts Begriffsschmiede; 1.2 Zugerechnetes Bewusstsein. Georg Lucács überhegelt das Proletariat. 2. Soziale Grenzen des Bewusstseins: 2.1 Masken, Mythen, mytische Partizipation. C. G. Jungs Gottähnlichkeit; 2.2 Dunkle Differenz. Sigmund Freud und die Mystik der Minderheit; 2.3 Balance und Phantasie. Exkurs zu Erik H. Erikson. 3. Virtuelle Vergangenheit und Zukunft: 3.1 Gedächtnislücke. Maurice Halbwachs und die Konstruktion des Traditionsgefühls; 3.2 Befriedene Ungleichheit. Politische Kultur nach Aldous Huxley. III. Das neue Herkommen. Zur Genealogie emphatischer Verborgenheit: 1. Heimliche Quellen Kollektiver Identität. Vergleich ihrer Erfindung nach dem Ersten Weltkrieg; 2. Unheimliche Konjunktur kollektiver Identität. Skizze ihrer Benutzung nach dem Zweiten Weltkrieg; 3. Indiskutable Diskurse. Spuren kollektiver Identität im politischen Zeitgeist; 4. Darf's etwas weniger sein? Verklärte Fiktionen, verstellte Verständigung und ein bescheidener Vorschlag.
Deliana Popova (DP)
Dipl.-Politologin.
Rubrizierung: 2.23 | 5.1 Empfohlene Zitierweise: Deliana Popova, Rezension zu: Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Reinbek: 2000, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/5325-kollektive-identitaet_6991, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 6991 Rezension drucken