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Wilfried Loth

Charles de Gaulle

Stuttgart/Berlin/Köln: Verlag W. Kohlhammer 2015 (Urban Taschenbücher 660); 331 S.; 32,- €; ISBN 978-3-17-021362-3
Kein Politiker, keine Persönlichkeit hat das Nachkriegsfrankreich so geprägt wie Charles de Gaulle (1890‑1970). Dabei sind nicht bloß seine Verdienste um die Organisation des Widerstandes gegen die deutsche Besatzung und die Befreiung Frankreichs oder um die Beendigung des Algerienkrieges im Umbruch von der Vierten zur Fünften Republik hervorzuheben. De Gaulle hat, wie Wilfried Loth in seiner überaus klaren und verständlich geschriebenen Biografie nachzeichnet, ein „außerordentliches Leben“ (9) gelebt – ein Leben voller Widersprüche und Wendungen, die in einer zumeist nur skizzenhaften Retrospektive allzu häufig verloren gehen. Einerseits war da der de Gaulle, der in historischer Tradition dem Vorbild eines großen, in Europa dominanten Frankreich nachhing. Nicht nur deswegen war sein Kampf gegen die deutsche Besatzung so vehement – er war es auch deswegen, weil sich im Falle des Sieges über Deutschland auch die Frage stellen würde, wer Frankreich nach dem Vichy‑Regime regieren sollte. Dass de Gaulle vor allem eine Person im Auge hatte – nämlich sich selbst – überrascht kaum. Auf der anderen Seite, sozusagen komplementär zur Idee der Grande Nation, war de Gaulle von der entschiedenen Vorstellung der Durchsetzung einer europäischen politischen Vereinigung getrieben. Wäre es nach ihm gegangen, wäre Großbritannien dabei nicht mit von der Partie gewesen – was aus heutiger Sicht, nach dem Referendum über den Brexit, eine eher skurrile Randnotiz ist. Wesentlich wichtiger scheint indes die Vision eines Europas zu sein, das auf supranationaler Ebene nicht nur Mehrheitsentschlüsse zulässt, sondern das sich auch politisch vereint. Bei einem Besuch von Konrad Adenauer in Colombey‑les‑Deux‑Églises im Jahr 1958 prophezeite de Gaulle nicht nur die politische Einigung Europas. Er verwies auch auf die daraus resultierenden Konsequenzen. Deutschland, so war er sich sicher, würde dann, ebenso wie Frankreich, über Atomwaffen verfügen. Abrunden lassen sich all diese Widersprüche, wenn man an die Idee von Frankreich als Grande Nation zurückdenkt. Wenn schon nicht auf nationaler Ebene, dann sollte doch wenigstens auf europäischer Ebene, durch Zusammenschluss, ein politisches, wirtschaftliches und militärisches Gewicht geschaffen werden, das in globaler Hinsicht nicht zu marginalisieren sein würde.
{LEM}
Rubrizierung: 2.12.61 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Wilfried Loth: Charles de Gaulle Stuttgart/Berlin/Köln: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/40155-charles-de-gaulle_45029, veröffentlicht am 10.11.2016. Buch-Nr.: 45029 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken