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Perry Anderson

Das italienische Desaster. Aus dem Englischen von Joachim Kalka

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2015; 90 S.; 7,99 €; ISBN 978-3-518-07440-4
Perry Andersons Essay ist eine durchgehend polemisch formulierte Streitschrift über Zustände der europäischen Politik, der er – was immer das sein mag – die Qualität einer „merowingische[n] Demokratie“ (86) zuschreibt. Der einleitende analytische Rahmen seiner Beobachtungen der italienischen Politics der letzten Jahre entwirft ein grelles „Panorama der europäischen Dysfunktionalität“ (14), das im Kern auf zwei Behauptungen beruht. Zunächst diagnostiziert er mit wenigen Schlagworten – oligarchische Tendenzen der Institutionen, systematische Ignorierung der Wähler, verselbstständigte Brüsseler Bürokratie, exekutive Entmachtung der nationalen Parlamente – ein ubiquitäres Demokratiedefizit der Europäischen Union, das die langfristigen Tendenzen innerhalb der Mitgliedstaaten ebenso widerspiegelt wie verstärkt. Diese Erosionsprozesse begünstigen zweitens eine flächendeckende Korruption der politischen Klasse, die von illegaler Parteienfinanzierung, Bestechung und Bereicherung im Amt bis zur Transformation politischer in ökonomische Macht reicht und für die Anderson prominente Namen als Beispiele parat hält (Kohl, Chirac, Schröder, Sarkozy, Lagarde, Blair, Rajoy). Seine zentrale These lautet: Das „italienische Desaster“ ist keine Anomalie, sondern „Konzentrat der europäischen Situation“ (64). Dementsprechend liest sich seine Beschreibung der italienischen Politik in der Hauptsache als Entlarvungsgeschichte des Endes der Berlusconi‑Ära: einerseits dessen mehr und mehr hilflose Versuche, den eigenen Machtverfall durch Stimmenkauf und Richterbeeinflussung aufzuhalten, andererseits die Taktierereien von Napolitano, Finzi, Monti, Da Letta, Prodi und Renzi – unter anderem durch Manipulationen des Wahlrechts – zur Stärkung der Mitte‑Links‑Gruppierung. Kurz geht er auch auf die bisher eher ambivalente Rolle Beppo Grillos und der Fünf‑Sterne‑Bewegung ein, die vielleicht der einzige Gegenentwurf zu dem sein könnte, „was die repräsentative Demokratie überall in Europa befallen hat“ (63). Berlusconi wie sein erfolgreicher Nachfolger Renzi sind – so das Resümee – Ergebnis einer qua Massenmedien immer weiter um sich greifenden Personalisierung von Politik, die „schon seit längerem schlicht die hegemoniale Herrschaftsform in allen atlantischen Demokratien auch außerhalb Italiens darstellt“ (61).
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Rubrizierung: 2.612.22.222.262 Empfohlene Zitierweise: Thomas Mirbach, Rezension zu: Perry Anderson: Das italienische Desaster. Frankfurt a. M.: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39836-das-italienische-desaster_47395, veröffentlicht am 21.07.2016. Buch-Nr.: 47395 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken