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Tanja Ernst

Demokratie und Dekolonisierung in Bolivien. Visionen und Praktiken jenseits des liberalen Paradigmas

Kassel: Universitätsbibliothek Kassel 2014 (https://kobra.bibliothek.uni-kassel.de/bitstream/urn:nbn:de:hebis:34-2015061648546/5/DissertationTanjaErnst.pdf); IX, 376 S.
Politikwiss. Diss. Kassel; Begutachtung: H.‑J. Burchardt, K. Meschkat. – Der größte Teil Lateinamerikas hat den Kolonialismus vor rund 200 Jahren überwunden – allerdings nur formal, wie Tanja Ernst betont. Sie sieht einen sogenannten Internen Kolonialismus als prägend für die Gesellschaften an, denn bis heute konzentriere sich die „ökonomische, politische und soziale Macht“ (1) in den Händen von Menschen mit europäischen Wurzeln. Am Beispiel von Bolivien zeigt Ernst, dass trotz eines demokratischen Transitionsprozesses, der weitreichende Partizipationsangebote institutionalisiert habe, die Teilhabe von Menschen mit indigener Herkunft an Macht‑ und Besitzstrukturen nach wie vor sehr gering sei. Hier sieht sie einen Widerspruch zur „liberal‑demokratischen Grundthese, dass demokratische Herrschaft […] die Interessenwahrung gesellschaftlicher Mehrheiten sichere“ (5) und so mehr soziale Gleichheit schaffe. In ihrer Arbeit untersucht die Autorin diesen Widerspruch und damit die Übertragbarkeit westlicher liberal‑demokratischer Normen auf andere soziohistorische Kontexte sowie die demokratietheoretische Bedeutung von Ungleichheiten. Sie fokussiert dafür in drei Fallstudien den indigenen Autonomieprozess in Bolivien. Methodisch legt Ernst Wert darauf, „feministische und post‑ bzw. dekoloniale Perspektiven“ (15) einzunehmen, und setzt daher vor allem qualitative Methoden wie narrative Interviews, ero‑epische Gespräche und teilnehmende Beobachtung ein, für Feldforschungen hielt sie sich zweimal in Bolivien auf. Die Frage indigener Autonomie beschreibt Ernst als hochpolitisch. So habe die Regierung diese bis etwa 2009 als Gegengewicht „zur wohlstandchauvinistischen Autonomievision der Tieflandeliten und rechten Opposition betrachtet“. Inzwischen scheine sie aber zu einem „Feigenblatt des plurinationalen Staatsversprechens“ (258) geworden zu sein, denn die Regierung habe wenig Interesse an der Dezentrierung und damit Schwächung ihrer politischen Macht. Insgesamt, so resümiert Ernst, hätten Umverteilungs‑ und Demokratisierungsmaßnahmen dennoch „zu einer substanziell verbesserten Teilhabe und Repräsentation“ (293) benachteiligter Gruppen beigetragen. Traditionelle Formen der Selbstorganisation, die die Forscherin als alternative und erfolgreiche demokratische Praktiken beobachten konnte, nennt sie dann als Beispiel dafür, dass auch westliche Demokratien durch den Einsatz mehr „partizipativer und direktdemokratischer Elemente“ (300) gestärkt werden könnten.
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Rubrizierung: 2.652.22.212.222.2622.2635.41 Empfohlene Zitierweise: Wolfgang Denzler, Rezension zu: Tanja Ernst: Demokratie und Dekolonisierung in Bolivien. Kassel: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39750-demokratie-und-dekolonisierung-in-bolivien_48325, veröffentlicht am 09.06.2016. Buch-Nr.: 48325 Rezension drucken