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Ingo Schneider / Martin Sexl (Hrsg.)

Das Unbehagen an der Kultur

Hamburg: Argument 2015; 270 S.; brosch., 19,- €; ISBN 978-3-86754-318-7
Der Kulturbegriff, wie er derzeit in den Geistes‑ und Sozialwissenschaften eine durchaus beachtenswerte Konjunktur aufweist, ist unscharf, so die Kritik der Herausgeber: „Es sind weniger die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Kulturkonzepte und die damit einhergehende begriffliche Verwirrung, die uns Sorge bereiten, sondern vielmehr der angedeutete Verdrängungsprozess“ (7) – der darin besteht, dass die durchweg positive Konnotation beinahe sämtlicher Kulturkonzepte immer auch eine Anerkennung der jeweils bezeichneten Praktiken reklamiert. Die Herausgeber konzedieren eine „strategische Indienstnahme des Kulturbegriffs“ (8), die auf die Unmöglichkeit von Kritik an den entsprechend bezeichneten Praktiken ebenso hinausläuft wie auf eine immer unversöhnlichere Konfrontation unterschiedlicher kultureller Sphären. „Es führt“, so Siegfried J. Schmidt in seinem Beitrag, „wohl kein Weg an der Einsicht vorbei, dass Kultur keine diskursunabhängige Entität ist, sondern ein Konzept, das je nach Diskurs auf die unterschiedlichsten Bereiche referieren kann“ (17). Ein „Kulturprogramm“ als „Problemlösungsinstrument“ (33) meint damit nicht nur ein kognitives oder kategorisierendes Verfahren der Wahrnehmung. Als sozialer Prozess ermöglicht Kultur die Entstehung von Normen oder Traditionen, die als stabilisierte Erwartungen auch über die Grenzen ihres Entstehungsraumes hinaus tragen können – etwa, indem kulturelle Programme jenseits ihrer Grenzen in imperialer Absicht propagiert oder aber indem sie als Grundlage interkulturellen Austausches verwendet werden. Gerade letztere Option stimmt Schmidt hinsichtlich seiner Gegenwartsdiagnose optimistisch: „Im Zuge dieser Entwicklungen deutet sich die Entstehung einer transnationalen globalen Kultur an, einer nicht mehr orts‑ oder nationengebundenen Kultur, die unter Globalisierungsbedingungen kein geschlossenes, kohärentes oder verbindliches Programm der symbolischen Ordnung eines festgefügten Wirklichkeitsmodells mehr ausbilden kann.“ (36) Terry Eagleton ist da weniger optimistisch. In seinem – ebenso kurzen wie pointierten – Beitrag geht er der Frage nach, wie es überhaupt dazu hat kommen können, dass der Begriff der Kultur so eine „ungemeine Inflation durchgemacht“ (61) hat. Seine Antwort: Kultur sei seit dem 18. Jahrhundert als dezidiertes Gegenkonzept zur Politik entworfen worden, etwa bei Burke oder in den Nationalismen im Zeitalter der Industrialisierung. Die national aufgeladene „Ideologie des Kulturalismus“ (65) sei noch immer in Barbarei ausgeartet, weswegen es angeraten sei, „irgendein bescheideneres, weniger unerhört ehrgeiziges Experiment vorzunehmen.“ (66) Ob Eagletons Ineinssetzung von Kultur und Nationalismus indes angemessen ist, wäre noch zu diskutieren.
{LEM}
Rubrizierung: 2.232.25.422.612.68 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Ingo Schneider / Martin Sexl (Hrsg.): Das Unbehagen an der Kultur Hamburg: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39621-das-unbehagen-an-der-kultur_48069, veröffentlicht am 21.04.2016. Buch-Nr.: 48069 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken