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Georg Wimmer

Kinderarbeit - ein Tabu. Mythen, Fakten, Perspektiven

Wien: Mandelbaum Verlag 2015 (kritik & utopie); 309 S. ; 19,90 €; ISBN 978-3-85476-643-8
„Kinderarbeit ist ein vielschichtiges und schwer zu fassendes Phänomen, das sich einer einfachen Kategorisierung hartnäckig zu entziehen scheint“ (77), schreibt der österreichische Journalist Georg Wimmer. Für sein Buch hat er in Lateinamerika, vor allem in Nicaragua, viele Gespräche mit Kindern geführt, die ihn zu einer differenzierten Bewertung von Kinderarbeit bewegt haben. In den Industrieländern dominiere die Vorstellung, dass sich Kindsein und Erwerbsarbeit ausschließen und ein Kind allein dadurch ausgebeutet werde, dass es bezahlt arbeite. Tatsächlich sei das nicht automatisch der Fall: Von den weltweit rund 168 Millionen arbeitenden Mädchen und Jungen übe nur jedes fünfte Kind eine bezahlte Tätigkeit aus, die Mehrheit sei unentgeltlich für die eigene Familie tätig. Zumeist seien die Kinder gemeinsam mit ihren Eltern in die Arbeit eingebunden, weshalb Kinderarbeit eng an die soziale Situation von Familien gekoppelt sei. Vielfach ermögliche diese Arbeit den Schulbesuch erst. Im heutigen System seien Menschen zum Teil gezwungen, „unter ausbeuterischen Bedingungen zu leben“ – mit den entsprechenden Konsequenzen für die Kinder. Für Wimmer ist Kinderarbeit die Folge von Ausbeutung. Internationale Organisationen wie die ILO oder UNICEF stellten die bestehende Wirtschaftsordnung nicht infrage und machten „den strukturellen Missbrauch durch das globale Wirtschaftssystem nicht zum Thema, sondern erklären, dass durch die Kinderarbeit die Armut verlängert werde“ (84). Ausbeutung liege für die ILO etwa dann vor, wenn Kinder unter 14 Jahren länger als zehn Stunden in der Woche arbeiteten; diese sei für sie primär eine Frage des Alters und erst in zweiter Linie des Lohnes. Dem widersprechen die in Lateinamerika entstandenen Kinderbewegungen, die nicht das Alter als entscheidend dafür ansehen, ob eine Ausbeutung vorliegt, sondern das Kriterium, „ob die Arbeit von dem Kind frei gewählt werden kann“ (89 f.). Diese gewerkschaftsähnlichen Organisationen, die NATS („Arbeitende Mädchen und Jungen und Jugendliche“), überraschen insofern mit ihren Forderungen, als sie in der Arbeit von Heranwachsenden „keineswegs bloß das kleinere Übel im Angesicht der Armut“ sehen, sondern Arbeit und Kindheit stellen für sie keinen Widerspruch dar. Denn „Arbeit schaffe Identität, stärke das Selbstwertgefühl und erweitere sogar den Handlungsspielraum der Jungen und Mädchen in schwierigen Situationen“ (7). Es stelle sich die Frage, wo der gebotene Schutz eines Kindes endet und wo die Bevormundung durch Erwachsene beginnt. Gemäß der Kinderrechtskonvention haben Minderjährige in allen Fällen ein Mitspracherecht, die ihr Wohlergehen betreffen, also müssten sie auch frei entscheiden dürfen, ob sie nach der Schule arbeiten oder nicht. Schutz vor der ausbeuterischen Kinderarbeit biete vor allem die generelle Armutsbekämpfung, schreibt Wimmer abschließend.
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Rubrizierung: 2.22.222.2622.652.684.444.34.42 Empfohlene Zitierweise: Sabine Steppat, Rezension zu: Georg Wimmer : Kinderarbeit - ein Tabu. Wien: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39552-kinderarbeit---ein-tabu_46939, veröffentlicht am 24.03.2016. Buch-Nr.: 46939 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken