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Oleg Chlewnjuk

Stalin. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm

Berlin: Siedler Verlag 2015; 590 S.; geb., 29,99 €; ISBN 978-3-8275-0057-1
Oleg Chlewnjuk setzt sich zum Ziel, anhand neuerer Dokumente bisher unbekannte Facetten der Persönlichkeit Stalins aufzudecken. Im gerechtfertigten Bemühen, dem gegenwärtigen neo‑autoritären Stalin‑Kult in Russland und der Verklärung der Geschichte entgegenzuwirken, geht allerdings die theoriegeleitete Analyse oftmals unter. Zweifellos war der Diktator tatsächlich ein Ausnahmecholeriker höchster Güte, „grausam und mitleidlos veranlagt“ (30). Ein aggressiver Charakter allein kann allerdings nur schwerlich als hinreichende Antwort auf die Frage gelten, warum sich die russische Revolution gerade in diese Richtung entwickelt hat. Stalin erscheint durchgehend in einer Mischung aus Bösartigkeit und Tollpatschigkeit, mit an Vorsatz grenzender Ahnungslosigkeit wählt er bei jeder anstehenden Entscheidung immer nur die schlechteste Option und presst nur durch die schiere böse Willenskraft der sowjetischen Bevölkerung den Sieg im Weltkrieg ab. Chlewnjuk erwähnt nur kurz den theoretischen Dogmatismus Stalins als die Wurzel allen Übels, ohne zu spezifizieren, worin genau dieser denn besteht – ist es ein Festhalten an Lenin oder eher ein dogmatischer Humanismus? Ist das Problem wirklich sein zu orthodoxes Verständnis des späten Marx? Wie ist es zu beurteilen, dass Stalin sich selbst gar nicht als orthodox, sondern vielmehr als Vertreter eines „kreativen Marxismus“ (91) verstand? Auch Lenin war offenbar von diesem scheinbar unerklärlichen Phänomen des „vorrauseilenden Radikalismus“ (99) betroffen, denn Chlewnjuk weiß genau: „Die Strategie, mit legalen und friedlichen Mitteln die Vorherrschaft zu erringen, war weder utopisch noch abwegig“, aber: „[S]ie gefiel Lenin nicht“ (95). Vor allem die großen Umbrüche kommen zu kurz. Quasi von einer Druckseite auf die nächste wird aus dem vernachlässigten Exilanten Stalin ein führender Politiker des Landes, sein häufiges Umschwenken vom linksradikalen zum rechten Flügel der Bolschewiki und zurück passiert scheinbar ausschließlich aus machtpolitischen Gründen. Ehemalige engste Kampfgenossen wie Trotzki und Sinowjew werden wie selbstverständlich scheinbar nur aus niederen Motiven plötzlich zu Todfeinden. Sehr gelungen und in dieser Form wahrscheinlich einzigartig dagegen ist das Kapitel über Stalins vorsichtige Begegnung mit Mao Tse‑tung. Insgesamt handelt es sich um eine streckenweise tief beeindruckende Sammlung teils wahrlich verstörenden Materials, die sich zu wenig auf die tatsächlichen Gegebenheiten einlässt, unter denen Land und Partei standen, die das Phänomen Stalin hervorgebracht haben.
{FG}
Rubrizierung: 2.12.622.25 Empfohlene Zitierweise: Florian Geisler, Rezension zu: Oleg Chlewnjuk: Stalin. Berlin: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39448-stalin_47817, veröffentlicht am 25.02.2016. Buch-Nr.: 47817 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken