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Hannah Maischein

Augenzeugenschaft, Visualität, Politik. Polnische Erinnerungen an die deutsche Judenvernichtung

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2015 (Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa 2); 636 S.; 89,99 €; ISBN 978-3-525-30074-9
Geschichtswiss. Diss. München; Begutachtung: M. Schulze Wessel, M. Flacke. – Sie nehme an, „die Polen können den Juden nicht verzeihen, dass sie Zeugen ihrer eigenen normalen menschlichen Kleinmütigkeit waren“ (14), zitiert die Autorin eine überlebende Jüdin und deutet damit ein Denken an, das – neben dem Antisemitismus im Land – viele der Beobachtungen zur polnischen Augenzeugenschaft des Holocaust plausibel erscheinen lässt. Unfreiwillig waren die Polen von den NS‑Besatzern zu „Anwohner[n] der Verbrechen“ (11) gemacht worden und mussten sich nach Kriegsende fragen, was das für ihre nationale Identität bedeutet: „Sehen Polen sich selbst als Helfer, Täter oder Opfer gegenüber Juden“, wie ist ihr „Selbstverständnis im Inneren“ (12)? Und wie verortet sich das Land heute über die Augenzeugenschaft in der EU, in der „die Holocaust‑Erinnerung zentral für gemeinsame Wertvorstellungen“ (13) ist? Ihre umfangreiche Darstellung des Erinnerungsdiskurses über die mit verschiedenen Bedeutungen aufgeladene Augenzeugenschaft verankert Maischein an visuellen Repräsentationen. Von grundsätzlicher Bedeutung (weil dem Antisemitismus Vorschub leistend) ist dabei, dass die Trennung „der Polen“ und „der Juden“ unter der NS‑Okkupation zu einer verzerrten Wahrnehmung geführt hat, die nicht wieder aufgehoben worden ist: „Wenn Polen nach Kriegsende Zeugenschaft für die nationalsozialistischen Judenmorde ablegen, aktualisieren sie von den deutschen Besatzern definierte ethnische Differenz“ (35); die jüdische Selbstbeschreibung spielt(e) dabei keine Rolle, wohl aber die nationalistische Wahrnehmung der Polen selbst. Die Autorin zeigt, wie sich so in der Volksrepublik ein Narrativ entfaltete, mit dem sich die Mehrheitsgesellschaft selbst als NS‑Opfer sowie als Helfer der Juden positionierte. Entsprechend wurden für die Vorführung von Claude Lanzmanns Dokumentarfilm „Shoa“ „die Stimmen der jüdischen Zeugen komplett herausgeschnitten“ (433) und auch nach dem Ende des sozialistischen Systems war Jan Gross für seine Darstellung des Mordes an den Juden von Jedwabne („Nachbarn“, siehe Buch‑Nr. 17872) massiven Anfeindungen ausgesetzt. Zwar zeigen neuere Untersuchungen ein ehrlicheres Bild, wonach die Helfer, die es auch gegeben hat, meist „ein finanzielles Interesse“ verfolgten und zudem „häufig Individualisten“ (443) waren. Insgesamt aber bleibe „die national‑martyrologische Interpretation der polnischen Augenzeugenschaft kaum anschlussfähig an den westlichen Holocaust‑Diskurs“ (524), schreibt Maischein. Die Judenvernichtung bilde im Erinnerungsdiskurs nach wie vor einen negativen Bezugspunkt, der von Schuldabwehr geprägt sei.
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Rubrizierung: 2.612.232.3122.254.1 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Hannah Maischein: Augenzeugenschaft, Visualität, Politik. Göttingen u. a.: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39367-augenzeugenschaft-visualitaet-politik_47479, veröffentlicht am 11.02.2016. Buch-Nr.: 47479 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken