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Matthias Kirchner

Hochschulreform und Studentenrevolte in Italien 1958-1974

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015 (Sammlung Schöningh. Zur Geschichte und Gegenwart); 492 S.; 44,90 €; ISBN 978-3-506-77987-8
Geschichtswiss. Diss. Heidelberg; Begutachtung: E. Wolfrum, K. von Lingen. – Überfüllte Hochschulen, hohe Abbruchquoten und eine „für europäische Verhältnisse“ (393) außergewöhnlich hohe Arbeitslosigkeit junger Akademiker_innen prägen das Hochschulwesen Italiens. Diese Zustände sind keineswegs eine neuere Krisenerscheinung, sondern das Ergebnis einer Politik, die sich über Jahrzehnte durch Reformunwilligkeit und Reformunfähigkeit ausgezeichnet hat. Dies zeigt Matthias Kirchner in seiner deskriptiven Studie, die eigentlich eine reformorientierte Zeit zum Schwerpunkt hat – jene Phase nach der Ablösung rein konservativer Regierungen durch Mitte‑Links‑Koalitionen, die begleitet wurden von einem gesellschaftlichen Konsens über die Reformbedürftigkeit des Landes. Auch beschreibt Kirchner die Rahmenbedingungen – vor allem den wirtschaftlichen Aufschwung – als für die Umsetzung von Reformen förderlich. Aber der Teufel scheint besonders in Italien im Detail zu stecken, wo sich Vertreter von Konservatismus, Katholizismus und Kommunismus unversöhnlich gegenüberstanden und ‑stehen, noch dazu flankiert von Sozialisten, Neofaschisten und insbesondere in den 1960er‑ und 1970er‑Jahren von stark politisierten Studierendenbewegungen. Und so schildert Kirchner in der Hauptsache den Niedergang eines großen Reformvorhabens: Das Hochschulwesen – (sozial selektierende) Zulassung, Ausrichtung der Curricula (am Arbeitsmarkt vorbei), Stellung der Professoren (die sich lieber auf Nebentätigkeiten konzentrierten) – sollte eigentlich, so zunächst die sich seit den 1950er‑Jahren allgemein verbreitende Auffassung, an die moderne demokratische Gesellschaft angepasst werden. Aber die Beratungen zum sogenannten Legge Gui zogen sich in die Länge. Einzelne Beschlüsse wurden zwar verabschiedet, aber die Professoren opponierten gegen ihre Verpflichtung auf Anwesenheit und Lehre sowie gegen eine Reorganisation der Universitäten nach Fachbereichen. Derweil stellte die unabhängige Studierendenbewegung weitergehende Forderungen und lieferte sich mit der Polizei Straßenschlachten, auch den Kommunisten gingen die Reformvorschläge nicht weit genug, den Konservativen aber zu weit und über diesen Streit brachen Erdbeben, wirtschaftliche Rezession und der Sturz der Moro‑Regierung herein. Die Reform der Hochschulen erfolgte unter dem Eindruck all dieser Meinungen und Ereignisse nur halbherzig, die Situation der Studierenden und der jungen Akademiker_innen verbesserte sich nicht. Wünschenswert wäre es (aus politikwissenschaftlicher Perspektive) gewesen, diese interessanten Beobachtungen auch theoretisch zu fassen.
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Rubrizierung: 2.612.2632.222.21 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Matthias Kirchner: Hochschulreform und Studentenrevolte in Italien 1958-1974 Paderborn: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39349-hochschulreform-und-studentenrevolte-in-italien-1958-1974_47690, veröffentlicht am 04.02.2016. Buch-Nr.: 47690 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken