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Peter Seyferth (Hrsg.)

Den Staat zerschlagen! Anarchistische Staatsverständnisse

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2015 (Staatsverständnisse 78); 306 S.; 49,- €; ISBN 978-3-8329-7986-7
Die „Staatsverständnisse“ wären freilich ohne einen Band zu den Anti‑Staatstheorien unvollständig. Anarchismus sei, so Herausgeber Peter Seyferth, aber vor allem auch eine konkrete Praxis sozialer Bewegungen und eine existenzielle Haltung, ein Lebensgefühl, das „wie der Staat und andere Herrschaftsbeziehungen das Denken und Fühlen [...] form(t)“ (14) – nur eben umgekehrt. In einem etatistisch geprägten Land von schwach liberaler Tradition, in dem Regierungserklärungen des „mehr Freiheit wagen“ zur Phrase geraten, Sicherheitsapparate beständig ausgebaut werden, die Bürger_innen Weltmeister im Abschließen von „Versicherungen“ sind und nachts an einer roten Fußgängerampel gehorsam stillstehen, tut es insofern gut, an das politische Anliegen der Freiheit radikal erinnert zu werden. Denn gerade die Ordnung des demokratischen Verfassungsstaats setzt – soll sie denn funktionieren – auch die libertäre Unordnung einer Zivilgesellschaft voraus; beim „Brokdorf‑Urteil“ (1985) war das selbst dem Bundesverfassungsgericht noch ganz bewusst. Seyferth bemängelt daher zu Recht, dass im Gegensatz zu Großbritannien und den USA hierzulande kaum eine akademische Anarchismus‑Forschung existiere. Der Band öffnet den Blick dafür, dass die „Anarchismen“ viel mehr und zum Teil sogar das Gegenteil von dem sind, was etwa durch die auf eine leninistisch‑maoistische Diktatur zielende, bombenwerfende RAF völlig diskreditiert worden ist. Über die im zweiten Kapitel behandelten „Klassiker“ Proudhon, Bakunin, Kropotkin und den Individualanarchisten Stirner hinaus wird ein weiter Definitionsansatz verfolgt; nur jenseits des besonderen russischen „‚Klassenkampfanarchismus‘“ (18) ließen sich auch die aktuellen neo‑anarchistischen Schnittstellen zu den Altermondialisten, der Occupy‑Bewegung, „Hacker‑Szene“ und WikiLeaks einfangen. Ein eigenes Hauptkapitel ist Gustav Landauer gewidmet, der im Anarchismus für den Umbruch „von der Klassik zur Postmoderne“ (175 ff.) stehe. Neben Analysen zum Einfluss jüdisch‑russischer Exil‑Anarchisten in den USA und zum „Anarcho‑Syndikalismus“ schließt der Band mit der aktuellen individualanarchistischen Strömung des amerikanischen „Anarcho‑Primitivismus“. Inspiriert unter anderem durch Rousseau und Thoreau stehe hier nicht mehr der „Staat“ beziehungsweise die institutionellen Formen seiner politischen Herrschaft, sondern eine vom Zurück‑zur‑Natur‑Mythos beflügelte öko‑fundamentale, „umfassende Zivilisationskritik“ (Markus Huber, 262) im Vordergrund.
{RVO}
Rubrizierung: 5.415.435.46 Empfohlene Zitierweise: Robert Chr. van Ooyen, Rezension zu: Peter Seyferth (Hrsg.): Den Staat zerschlagen! Baden-Baden: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39212-den-staat-zerschlagen_47839, veröffentlicht am 17.12.2015. Buch-Nr.: 47839 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken