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Axel T. Paul / Benjamin Schwalb (Hrsg.)

Gewaltmassen. Über Eigendynamik und Selbstorganisation kollektiver Gewalt

Hamburg: Hamburger Edition 2015; 415 S.; 35,- €; ISBN 978-3-86854-293-6
Das Forschungsinteresse an Formen kollektiver Gewalt ist ungebrochen. Während dabei meist organisierte Gewalthandlungen im Mittelpunkt stehen, wie etwa der Holocaust oder der Genozid an den Tutsi in Ruanda, widmen sich die Autoren dieses Sammelbandes ungeplanter, kollektiver Gewalt. An ihrem plötzlichen Auftreten (Emergenz), ihrer nicht vorhersagbaren Entwicklung (Dynamik) und ihrer Verstetigung beziehungsweise Verfestigung (Institutionalisierungen) orientiert sich die Struktur des Buches. Im ersten Abschnitt benennen die Autoren unterschiedliche Entstehungsbedingungen, so etwa die Rolle linksradikaler Aktivisten nach dem Freispruch für die Polizisten, die 1992 in Los Angeles Rodney King misshandelt hatten. In den folgenden Unruhen löste sich die soziale Ordnung flächendeckend auf. In einer Analyse der Gewalt von US‑Gangs wird die relativ neue Bedeutung des Internets hervorgehoben. Dies gilt vor allem für Rivalitäten zwischen den Gruppen, weniger für soziale Kontrolle innerhalb der Gangs. Thomas Klatetzkis Analyse von Lynchmobs zeigt unter anderem, dass diese meist nach einem festen Schema – einem Lynchskript – handeln. Dabei geht es um Verbrechen, die die moralische Integrität der Gruppe gefährden und die von einer schwachen Staatsinstanz nicht geahndet werden. Im zweiten Abschnitt steht die Frage im Zentrum, an welchen Punkten Stimmungen kippen und sich die Masse enthemmt. Randall Collins spricht in diesem Zusammenhang zum Beispiel von „Vorwärtspaniken“ (204 ff.). Diese entstünden bei hoher Anspannung verfeindeter Gruppen, wenn eine der Gruppen der Konfrontation ausweiche oder in eine offensichtlich unterlegene Position gerate. In der daraufhin losbrechenden Raserei mache die nun überlegene Gruppe die Feinde erbarmungslos nieder. Im letzten Teil geht es um unterschiedliche Institutionalisierungen von ursprünglich nicht‑organisierter, kollektiver Gewalt. Die Fortsetzung der Gewalt wird dabei zur Daseinsberechtigung der Gruppe. So unterschiedlich die Herangehensweisen der Historiker, Soziologen, Philosophen, Ethnologen und Psychologen sind, so eindrucksvoll und erkenntnisreich sind die Beispiele, die sie aus ihren Forschungsbereichen anführen. Das Buch bereichert daher unbedingt die aktuelle Gewaltforschung.
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Rubrizierung: 2.252.232.224.412.622.642.68 Empfohlene Zitierweise: Dirk Burmester, Rezension zu: Axel T. Paul / Benjamin Schwalb (Hrsg.): Gewaltmassen. Hamburg: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39134-gewaltmassen_47723, veröffentlicht am 26.11.2015. Buch-Nr.: 47723 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken