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Clemens Sedmak (Hrsg.)

Gerechtigkeit: Vom Wert der Verhältnismäßigkeit

Darmstadt: WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2014 (Grundwerte Europas); 255 S.; 59,95 €; ISBN 978-3-534-20777-0
Nachdem in der Reihe bereits die Bände zu den Begriffen Solidarität, Freiheit und Gleichheit vorliegen, geht es in dem von Clemens Sedmak herausgegebenen vierten Band zu den europäischen Grundwerten um den Begriff der Gerechtigkeit. Seit Platons Politeia ist wohl kaum ein Begriff so kontrovers diskutiert worden wie eben jener der Gerechtigkeit. In ihm spiegeln sich – ganz konkret – Erfahrungen der Ausgrenzung, der Ungleichheit und der Benachteiligung wider. Und mit Blick auf die Gegenwart muss man ergänzen: ebenso Erfahrungen der sehr ausgeprägten Ungleichheit, angesichts derer bereits jegliches Maß verloren gegangen zu sein scheint. Gegenwartsdiagnostisch nur folgerichtig begibt sich Christoph Butterwegge mit Blick auf das deutsche „Paradebeispiel für das europäische Sozialmodell“ (77) auf die Suche nach den Überresten jener Wohlfahrtsstaatlichkeit, die bislang noch nicht von dem – euphemistisch immer – als neoliberale Modernisierung bezeichneten weitreichenden Rückbau institutioneller Solidarität hinweggefegt worden sind. Mit Blick auf die politische Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls sowie auf die aktuellen Parteiprogramme insbesondere von CDU/CSU und SPD kommt Butterwegge dabei zu einem überaus klaren Befund: „Die sozialliberale Gerechtigkeitstheorie eines John Rawls wird jedoch pervertiert, wenn man sie für marktradikale Positionen instrumentalisiert. [...] Die neoliberale Hegemonie, der sich die Sozialdemokratie nicht zu entziehen vermochte, hat [...] bisher allgemein verbindliche Gleichheits‑ und Gerechtigkeitsvorstellungen auf den Kopf gestellt.“ (80) So sei etwa das Streben nach einer weitgehenden Angleichung der Lebensverhältnisse und damit nach einer tendenziellen Überwindung sozialer Unterschiede der Vorstellung gewichen, wonach Leistungsschwachen oder Leistungsunwilligen wenig beziehungsweise nichts an Unterstützung zustehe. Dass Gerechtigkeit ihre Grenzen hat, wie Sedmak dies in seiner Einleitung betont, ist unbestreitbar. Niemand kann vorhersehen, in welche Verhältnisse er oder sie hineingeboren wird oder über welche Fähigkeiten er oder sie verfügt. Darin liegt auch gar nicht der Skandal. Das Problem besteht dann, wenn eine Gesellschaft, obwohl sie faktisch Ungleichheiten reduzieren könnte, dies dennoch nicht tut. Für diese wichtige Debatte liegt nun ein nicht minder wichtiges Buch vor, das – wie die weiteren Beiträge zeigen – vor nationalen Grenzen ebenso wenig Halt macht wie vor der Thematisierung des Alterns oder von körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen.
{LEM}
Rubrizierung: 1.35.415.422.222.264.442.67 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Clemens Sedmak (Hrsg.): Gerechtigkeit: Vom Wert der Verhältnismäßigkeit Darmstadt: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39058-gerechtigkeit-vom-wert-der-verhaeltnismaessigkeit_47602, veröffentlicht am 05.11.2015. Buch-Nr.: 47602 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken