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Karl Reitter (Hrsg.)

Karl Marx. Philosoph der Befreiung oder Theoretiker des Kapitals? Zur Kritik der "Neuen Marx-Lektüre"

Wien: Mandelbaum Verlag 2015 (kritik & utopie); 315 S. ; 19,90 €; ISBN 978-3-85476-639-1
„Nichts wird ohne Klassenhass geschehen“ (162) – so bringt Mario Tronti schon 1974 und in seitdem unerreicht pointierter Weise eine wichtige innermarxistische Frontlinie auf den Punkt: Handelt es sich beim Marxismus um eine kämpferische Theorie der Ausbeutung und Entfremdung in einer Klassengesellschaft mit revolutionärer Zielsetzung oder um eine neutrale Wissenschaft von Wert und Tausch? Mehr als vierzig Jahre später ist dieser Streit über das Paradigma marxistischer Theorie nicht gerade übersichtlicher geworden, und so macht sich die Gruppe um den ehemaligen Mitherausgeber der Wiener Grundrisse‑Zeitschrift Karl Reitter an eine neue Bestandsaufnahme der Verhältnisse von traditionellen und neuen Formen des Marxismus. Von einer eher traditionellen Position aus wird Kritik an die Adresse mehrerer Strömungen gerichtet, von der Wertkritik‑Schule über den Althusserianismus, das Freiburger ISF einerseits und im Geiste der Kritischen Theorie auf Ideologiekritik pochende Beiträge andererseits bis hin zu den monetären Theorien im Anschluss an Backhaus und Reichelt, die ein wenig plakativ alle unter dem Label „Neue Marx‑Lektüre“ zusammengeworfen werden. Reitter et al. identifizieren weitgehend treffsicher einige Gemeinsamkeiten zwischen diesen Linien. Dazu gehört der Vorwurf an die Neue Marx‑Lektüre, die Kategorie Kapital als „automatisches Subjekt“ (179) missverstanden zu haben: Die Autoren stoßen sich vehement an dem Trend, die Dynamik des Kapitalismus eher aus den systematischen Eigenarten der Waren‑ und Geldform denn aus dem Klassenkampf zu erklären. Ist Marx logisch oder historisch zu lesen, entsteht Wert durch Tausch oder Tausch durch Wert? Hat sich die Neue Marx‑Lektüre etwa gerade im „Fetisch als Fetisch“ (196) verfangen? Leider wird die Gelegenheit, diese bekannten Vorwürfe in sachliche und bearbeitbare Bahnen zu lenken, oft verpasst und verbleibt auf der Ebene von (Marx‑)Exegese und Gegenexegese, wird also zuerst als akademisches und nur sekundär als politisches Problem gesehen, was auch die rhetorische Schärfe ad absurdum führt. Überraschend ist auch die ausgestreckte Hand der Autoren in Richtung des Poststrukturalismus, dessen fundamental vom Marxismus unterschiedliches ontologisches Grundmodell nicht weiter zur Sprache kommt – und daher deplatziert wirkt. Der Band liefert also zwar kein kohärentes Bild über den Gesamtzustand des gegenwärtigen Marxismus, enthält aber dennoch eine große Menge an sehr feinsinnigen Beobachtungen und Kritiken und stellt für eine Kartierung dieses Feldes wichtiges Material zusammen. Der soziologische Zitationsstil erschwert eine weitere wissenschaftliche Rezeption unnötig.
{FG}
Rubrizierung: 5.425.33 Empfohlene Zitierweise: Florian Geisler, Rezension zu: Karl Reitter (Hrsg.): Karl Marx. Wien: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38995-karl-marx_46940, veröffentlicht am 22.10.2015. Buch-Nr.: 46940 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken