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David Nirenberg

Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens. Aus dem Englischen von Martin Richter

München: C. H. Beck 2015 (Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung); 587 S.; 39,95 €; ISBN 978-3-406-67531-7
Während Edward Said in „Orientalismus“ die Argumentationsmuster der westlichen Gesellschaft und Wissenschaft offenlegt, die den Umgang mit der arabischen Welt strukturieren – wesentliches Element ist demnach ein Überlegenheitsgefühl –, richtet David Nirenberg, Professor an der University of Chicago, den Blick auf diese selbst. Er erkundet dabei, wie „Menschen über mehrere Jahrtausende, in vielen Ländern und vielen unterschiedlichen Bereichen […] Ideen über Juden und Judentum verwendet haben, um jene Werkzeuge herzustellen, mit denen sie die Realität ihrer Welt konstruieren“ (467). Wie also sieht sich der Westen selbst, wie formiert er sich und wie trägt er seine inneren Kämpfe aus? Nirenberg knüpft, wie Said, in seiner Herangehensweise an die Überlegungen des Romanisten Erich Auerbach an. Als Fluchtpunkt seiner Analyse dient ihm die These von Horkheimer und Adorno, wonach der Holocaust nicht mit der „Realität“ zu begründen ist. Daraus folgert er, „dass antisemitische Ideen ihre Macht weniger aus ihrer Beziehung zur Realität bezogen als aus ihrer Immunität gegenüber Realitätsfragen“ (465). Jean Paul Sartre habe entsprechend die Juden „als Kategorie der Fantasie und Projektion im Denken des Nichtjuden“ (464) interpretiert. Nirenberg entfaltet daher eine „tiefe Ideengeschichte“, ohne die „der Holocaust unvorstellbar war und unerklärlich ist“ (459) – denn diesem vorausgegangen ist das Phänomen, dass die Nationalsozialisten „dem deutschen Volk die Gefahren der Welt, in der es lebte, als Resultat der jüdischen Macht darstellen“ (447) konnten. Sie knüpften damit an eine lange Tradition an: Frühe Beispiele dafür, „wie sich das Bewusstsein eines Volkes für seinen vergangenen und gegenwärtigen Platz in der Welt […] durch die Konstruktion einer grundsätzlichen Opposition zu Juden und Judentum artikulieren lässt“ (35), findet Nirenberg im alten Ägypten; im frühen Christentum und im entstehenden Islam verlaufen die Abgrenzungen zum Judentum entlang der inneren Konflikte, bei denen über den ‚richtigen‘ Glauben gestritten und logisches, abstraktes Denken stigmatisiert wird. Dieses Muster, wonach die Juden als Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Spannungen missbraucht werden, setzt sich über das frühe Mittelalter, die spanische Inquisition und die Reformation fort, findet sich in Shakespeares Theaterstücken wie in der Philosophie, die Grundlage des heutigen westlichen Denkens ist. Kant, Fichte, Hegel, Schopenhauer, Marx, sie alle bedienen sich dieser Konstruktion von Realität – sogar Max Weber, der hier dennoch als einziger Querdenker auftritt. Deutlich zeigt Nirenberg so, was die Grundlage von Diskriminierung und Verfolgung ist: die „traditionsreiche Verwechslung des vorgestellten mit dem realen Juden“ (430).
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Rubrizierung: 5.15.35.332.232.612.3125.42 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: David Nirenberg: Anti-Judaismus. München: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38845-anti-judaismus_47148, veröffentlicht am 10.09.2015. Buch-Nr.: 47148 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken