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Jean Drèze / Amartya Sen

Indien. Ein Land und seine Widersprüche. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn

München: C. H. Beck 2014; 376 S.; geb., 29,95 €; ISBN 978-3-406-67029-9
Mit diesem „Plädoyer für Ungeduld“ (301) setzten die Wirtschaftswissenschaftler Jean Drèze und Amartya Sen ihre Zusammenarbeit bei der Aufklärung über die Voraussetzungen und Bedingungen einer gerechten wirtschaftlichen Entwicklung insbesondere im Rahmen der Demokratie fort. Mit Indien allerdings stellen sich dabei einzigartige Probleme, trotzdem akzeptieren die Autoren – Nobelpreisträger Sen ist in Westbengalen geboren und studierte zunächst in Kalkutta, Drèze wanderte 1979 nach Indien aus und ist Professor an der Allahabad University – keine verzweifelte Resignation. Sie sehen in dem Land das Potenzial vorhanden, positive Entwicklungen einzuleiten beziehungsweise zu verstärken – immerhin habe sich Indien seit 1947 als stabile Demokratie bewährt. Ihr Vorwurf aber lautet, dass diese Demokratie nur für eine zwar zahlenmäßig große, aber gemessen an der Bevölkerungszahl nur kleine privilegierte Gruppe funktioniert. Die große Mehrheit der Menschen, denen es am Grundsätzlichen zum Überleben fehlt, wird von der Politik schlicht ignoriert. Anders als mit Ignoranz sind die von Drèze und Sen mit vielen konkreten Zahlen belegten Zustände auch nicht zu erklären. So ist die Hälfte der Kinder unterernährt, ebenso trifft dies auf viele Frauen zu; die Säuglingssterblichkeit ist sehr hoch und der Schulunterricht äußerst mangelhaft, ein Gesundheitswesen, das diesen Namen verdient, existiert de facto nicht, und die indischen Eliten sind eher am Raumfahrtprogramm interessiert als daran, dass der Hälfte aller Haushalte Toiletten fehlen. Auffällig an dieser Bestandsaufnahme ist zum einen, dass die beiden südlichen Bundesstaaten Kerala und Tamil Nadu, in denen die öffentliche Hand sich darum bemüht, allen Bevölkerungsteilen gerecht zu werden, signifikant bessere Daten aufweisen. Zum anderen zeigt der Vergleich mit China, dass – anders als in Indien propagiert – substanzielle Fortschritte keineswegs über Privatisierung zu erzielen sind, sondern durch das Engagement des Staates. Indien ist zudem gekennzeichnet durch Diskriminierungen nach Klasse, Kaste und Geschlecht, die eine fast völlige soziale Undurchlässigkeit bewirken. Der Blick nach Bangladesch aber beweist, dass die Armut bekämpft, Kindersterblichkeit gesenkt und überhaupt eine stabile wirtschaftliche Entwicklung nur erzielt werden kann, wenn Mädchen und Frauen ausgebildet und den Männern gleichgestellt werden. Eine herausragende Rolle dabei, dass die Politik sich endlich den Problemen, die die Zukunft des Landes bedrohen, stellt, schreiben Drèze und Sen den Medien zu. Diese nutzen ihre Freiheit bisher nur, um über Reiche und Mächtige zu berichten. Der Gesellschaft fehlt damit ein ehrliches Bild von sich selbst.
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Rubrizierung: 2.682.22.222.232.2622.263 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Jean Drèze / Amartya Sen: Indien. München: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38195-indien_46635, veröffentlicht am 19.03.2015. Buch-Nr.: 46635 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken