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Tilmann Siebeneichner

Proletarischer Mythos und realer Sozialismus. Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse in der DDR

Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2014 (Zeithistorische Studien 55); 579 S.; 64,90 €; ISBN 978-3-412-22377-9
Geschichtswiss. Diss. Göttingen; Begutachtung: B. Weisbrod, A. Lüdtke. – Die Geschichte der DDR ist immer auch die von Repression und Gewalt. Warum die friedliche Revolution in ihrer entscheidenden Phase trotzdem gewaltfrei war, ist immer noch erklärungsbedürftig. Tilmann Siebeneichner liefert mit seiner Dissertation über die Betriebskampfgruppen einen Hinweis, der sich auch aus seiner ergiebigen Arbeit mit der wissenschaftlichen Literatur erschließt. Im Zentrum steht die These vom „Ausnahmezustand als latentes Paradigma des Regierens im Staatssozialismus“ (470), gespeist aus Erfahrungen der Kommunisten in der Weimarer Republik und der Annahme, das eigene System müsse stets aktiv vor seinen Feinden geschützt werden. Gewalt galt dazu als probates Mittel. Bestätigt sah sich die SED angesichts des Aufstands am 17. Juni 1953, in der Folge wurden die „Kampftruppen der Arbeiterklasse“ gegründet, die sich aus Teilen der Belegschaften der Betriebe und dabei loyalen SED‑Mitgliedern zusammensetzen sollten. Verstanden wurden sie aber von den Bürgern von Anfang an „auch als ein gegen die Bevölkerung gerichtetes Machtinstrument der Partei“ (108). In seiner als „erfahrungsorientierte[n] Gesellschaftsgeschichte“ (27) angelegten Untersuchung über Entwicklung, Zusammensetzung und Aufgaben sowie vor allem über Anspruch und Wirklichkeit zeigt Siebeneichner, wie es um die Kampftruppen tatsächlich bestellt war. Statt der angestrebten 15 Prozent der Belegschaften beteiligten sich vier Prozent (so 1955 im Bezirk Halle), es fehlte an Uniformen und Waffen, nur etwa die Hälfte der Kämpfer nahm an Schulungen teil, auf denen gerne reichlich Alkohol getrunken wurde. Auch waren sie, die oft einer Partisanenromantik anhingen, keineswegs nur loyale Genossen; Unterschlupf fanden ehemalige Mitglieder von NSDAP, SS und Wehrmacht, außerdem Männer, die verurteilt waren unter anderem wegen Betrugs und Unzucht mit Kindern. Zum ideellen Gründungsmoment der Truppen wurde – propagandistisch aufbereitet, obwohl im konkreten Einsatz gescheitert und schnell abgelöst – die Sicherung des Mauerbaus. Im Laufe der Zeit wurden 2.022 Einheiten mit knapp 190.000 Kämpfern aufgebaut, die in ihren Betrieben und der Bevölkerung allerdings eher als Drückeberger und Ewiggestrige galten. Dennoch personifizierten sie die dem System inhärente Gewalt. Aber weil die SED mit ihnen fortlaufend gewalttätige politische Aktionen heroisierte, „implizierte und stimulierte“ (479) dies den Gewaltverzicht derjenigen, so die Schlussfolgerung des Autors, die sich vom Regime absetzten – abzulesen an den friedlichen Demonstrationen im Herbst 1989: Die Bevölkerung hatte sich selbst zivilisiert und damit vom Regime emanzipiert, der sozialistische Ausnahmezustand und die Rechtfertigung von Gewalt wurden so außer Kraft gesetzt.
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Rubrizierung: 2.314 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Tilmann Siebeneichner: Proletarischer Mythos und realer Sozialismus. Köln/Weimar/Wien: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38186-proletarischer-mythos-und-realer-sozialismus_46331, veröffentlicht am 19.03.2015. Buch-Nr.: 46331 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken