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Agnes Arndt

Rote Bürger. Eine Milieu- und Beziehungsgeschichte linker Dissidenz in Polen (1956-1976)

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2013 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 209); 288 S.; 54,99 €; ISBN 978-3-525-37032-2
Geschichtswiss. Diss. FU Berlin; Begutachtung: J. Kocka, P. Nolte. – In Polen sei eine neue bürokratische Klasse entstanden, die zum eigenen Selbsterhalt die Arbeiter ausbeute, schrieben die Historiker Jacek Kuron und Karol Modzelewski 1964 in einem offenen Brief – und wurden für diese massive Infragestellung von „marxistisch‑leninistischen Begründungszusammenhängen“ (133) unter dem Vorwurf der Verbreitung falscher Informationen inhaftiert. Nichtsdestotrotz sprach auch der Philosoph Leszek Kolakowski in einem Redebeitrag bei einer Veranstaltung an der Universität Warschau 1966 dem kommunistischen Regime jeglichen Fortschritt in Rechtsprechung und Kulturpolitik ab und beklagte die höchste Säuglingssterblichkeit in Europa, allgemeine Hoffnungslosigkeit sowie eine Stagnation im privaten wie öffentlichen Leben. Diese beiden Ereignisse der offenen Dissidenz bedrohten die Legitimität des Regimes unübersehbar, wie Agnes Arndt herausarbeitet, denn die Widersacher kamen nun aus den eigenen Reihen – und sie sollten zu einer der „wichtigsten und personell stärksten Strömungen der demokratischen Opposition in Polen werden“ (165). Arndt zeichnet diese Vorgeschichte vom Ende des Kommunismus in Polen nach, einsetzend 1956 mit der erneuten Machtübernahme Gomulkas und den damit verbundenen Hoffnungen auf politische Reformen, insbesondere auf Meinungs‑ und Pressefreiheit. Diese Erwartungen wurden enttäuscht, nicht einmal dem Antisemitismus gebot das Regime Einhalt. Die links denkenden, teilweise jüdischen Bildungsbürgerinnen und ‑bürger, wie die Autorin die Protagonisten ihrer Dissertation (eine Gruppe von geschätzten 1.500 Personen) charakterisiert, die oft die Kinder kommunistischer Funktionäre waren, begannen sich von der offiziellen Ideologie abzuwenden. Diese Entwicklung mündete 1976 in die Bildung des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR), einem Vorläufer der Solidarnosc. Arndt entwirft nicht nur das Panorama der persönlichen Beziehungen dieser Dissidenten zueinander, ihrer Klubs und Verbindungen zu Emigranten. Als wesentlicher Faktor dafür, dass diese Dissidenz zu einer Erfolgsgeschichte wurde und in die Gestaltung der Transformation des Landes mündete, wird die Öffnung dieser Gruppe zur polnischen Gesellschaft hin deutlich. Prägend dabei waren – so ein zentrales Ergebnis dieser Arbeit – vor allem die Anstöße von Kolakowski und Adam Michnik, über das Verhältnis zum Katholizismus nachzudenken und mit der Kirche zu kooperieren, aber auch die Hinwendung zum polnischen Patriotismus als Mittel, sich von der Sowjetunion und damit vom stalinistischen System abzugrenzen.
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Rubrizierung: 2.612.222.25 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Agnes Arndt: Rote Bürger. Göttingen u. a.: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38080-rote-buerger_44615, veröffentlicht am 19.02.2015. Buch-Nr.: 44615 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken