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Helga Schultz

Europäischer Sozialismus – immer anders

Berlin: BWV Berliner Wissenschafts-Verlag GmbH 2014; XI, 554 S.; 59,- €; ISBN 978-3-8305-3310-8
Der historisch‑kritisch akzentuierte Band ist als „Rundgang durch ein Jahrhundert des europäischen Sozialismus“ (477) auch in politischer Hinsicht aktueller als das Spektrum der behandelten Theoretiker auf den ersten Blick vermuten lassen würde. Denn auch wenn Kautsky und Jaurès, Bauer und Trotzki, um nur einige der versammelten Sozialisten zu nennen, bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf ihre Weise in die Auseinandersetzung um die Möglichkeiten und Grenzen revolutionärer Gesellschaftsveränderung eingebunden waren, so ist das Thema, das sie verbindet, nämlich die Frage menschenwürdiger Lebensbedingungen, von ungeheurer Aktualität. Wie müssen – um es mit Isaiah Berlin zu formulieren – positive und negative Freiheiten in einer Gesellschaft ausbalanciert sein, sodass jedem Menschen die gleichen Möglichkeiten für die Entfaltung seiner Persönlichkeit zur Verfügung stehen? In einer Zeit, in der immer mehr gesellschaftliche Teilbereiche ökonomisiert zu werden scheinen und also den Marktgesetzen unterworfen werden, ist das eine mehr als relevante Frage. Schultz entwirft in historischen Einzelfalldarstellungen detailliert und theoretisch informiert Bilder europäischer Sozialisten, die beim Versuch der Beantwortung der Frage nach dem guten, nach dem gelungenen Leben der Menschen im Zeitalter der Industrialisierung immer auch einer politisch‑praktischen Gratwanderung ausgesetzt waren. Von Marx und Engels herkommend hat sich diese Gratwanderung prototypisch in den Figuren Eduard Bernsteins (der leider nicht mit einem eigenen Kapitel im Band erscheint) und Lenins manifestiert: Während Bernstein für eine graduelle Veränderung der bestehenden Verhältnisse durch Reformen eintrat, war es Lenin, der – vermeintlich erfolgreich – mit den Bolschewiki in Russland den Zarismus beiseite fegte und so durch revolutionäre Gewalt Fortschritt erzwang, der dann unter Stalin in einen kommunistischen Totalitarismus mündete. So wurde, wie Schultz zu Recht beklagt, „der Sozialismus schlichtweg als Irrweg des 20. Jahrhunderts verworfen“ (5). Dass der Sozialismus weit mehr war und ist, nämlich Grundlage einer progressiven, demokratischen Veränderung der gegenwärtigen Verhältnisse, die durch „konservative Angriffe auf den Sozialstaat“ und eine „marktliberale Offensive“ (479) zu massiver sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Desintegration geführt haben, wird auf immer andere Art und Weise bei der Lektüre der einzelnen Biografien deutlich.
{LEM}
Rubrizierung: 5.15.22.222.252.42.612.625.46 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Helga Schultz: Europäischer Sozialismus – immer anders Berlin: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/37993-europaeischer-sozialismus--immer-anders_46285, veröffentlicht am 22.01.2015. Buch-Nr.: 46285 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken