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Gudrun Weber / Thomas Auerbach

Genossen, wir müssen alles wissen! DDR-Alltag im Spiegel der Stasi-Akten. Ein Lesebuch

Berlin: Lukas Verlag 2014; 205 S.; brosch., 19,80 €; ISBN 978-3-86732-200-3
Passend zur auflebenden öffentlichen Diskussion, ob die DDR ein Unrechtstaat war, erscheint ein Band mit ausgewählten Dokumenten aus den Archiven des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Herausgeberin Gudrun Weber und Herausgeber Thomas Auerbach sind in der DDR aufgewachsen, arbeiten für den Bundesbeauftragten für die Stasi‑Unterlagen und haben sich lange Jahre mit vielerlei Aspekten des MfS beschäftigt. Mit dieser Auswahl legen sie ein hochinteressantes Lesebuch vor, mit dem die ganze Widersprüchlichkeit, Absurdität und Grausamkeit eines Regimes deutlich wird, das vorgab, das ideale und überlegende Gesellschaftsmodell zu repräsentieren. So wird vom FDJ‑Ferienlager Ende der 1940er‑Jahre berichtet, in dem absichtlich Gerüchte einer US‑amerikanischen Invasion gestreut wurden, um die Solidarität der sozialistischen Jugend zu beweisen. Das für die Machthaber unerwartete Resultat zeigt die wackligen Fundamente ihrer Herrschaft: Fast alle Jugendlichen entledigten sich ihrer Uniformen und warfen ihre Abzeichen in den nahegelegenen See. Andere Dokumente belegen den Kontrollwahn des MfS, der jedwede Belanglosigkeit dokumentierte. Vieles davon erscheint absurd‑lächerlich, wenn etwa vor motorgetriebenen Surfbrettern gewarnt wird, die im Westen erhältlich seien, da damit eine Flucht aus der DDR möglich sein könne. Dass diese in der DDR gar nicht gekauft werden konnten, spielte gar keine Rolle. Andere Akten dagegen verdeutlichen die unmittelbare Menschenfeindlichkeit des Regimes: So wurde ein aus dem Westen beschafftes K.‑o.‑Spray erst an Schweinen und dann willkürlich an Menschen auf offener Straße getestet, um die qualvolle Wirkung akribisch‑nüchtern zu notieren. Menschenrechte existierten nur auf dem Papier, wer dem MfS in die Hände fiel, musste mit allem rechnen, wie anhand des ungeklärten Verbleibs von Häftlingen illustriert wird. Daneben werden in dem Band die vielfältigen Formen des Widerstandes gezeigt – Flüsterwitze, Flugblätter oder die Verbreitung von Parolen auf öffentlichen Plätzen: „Genosse Honecker ist verunglückt, er ist in eine Versorgungslücke gefallen“ (64). Trotz der 40‑jährigen Repression hatte „am Ende die Firma ‚Horch und Guck‘ die Kontrolle verloren“ (148), schreiben Weber und Auerbach. Anhand der von ihnen ausgewählten Quellen ergibt sich ein eindrückliches Bild von Gesellschaft und Alltag der zweiten deutschen Diktatur.
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Rubrizierung: 2.314 Empfohlene Zitierweise: Fabrice Gireaud, Rezension zu: Gudrun Weber / Thomas Auerbach: Genossen, wir müssen alles wissen! Berlin: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/37867-genossen-wir-muessen-alles-wissen_46225, veröffentlicht am 04.12.2014. Buch-Nr.: 46225 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken