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Hermann Lübbe

Zivilisationsdynamik. Ernüchterter Fortschritt politisch und kulturell

Basel: Schwabe Verlag 2014 (Schwabe interdisziplinär 3); 307 S.; geb., 40,50 €; ISBN 978-3-7965-3251-1
Trotz aller durch Globalisierung verursachten Probleme hält Hermann Lübbe Kulturkritik für verfehlt, weil sie keinen höheren Standpunkt bietet, von dem aus erkannt werden kann, was Common Sense und Wissenschaft verborgen bleibt. Diese Funktion erfüllt seiner Ansicht nach nur die Philosophie. Vor diesem Hintergrund erörtert Lübbe Phänomene der heutigen Zivilisation, darunter die Verhältnisse von Freiheit und Gleichheit sowie von Religion und Wissenschaft. Leitfrage für Ersteres ist, wie eine egalitäre Massengesellschaft eine hohe Ungleichheit in Bezug auf Wohlstand, Fähigkeiten und sozialem Status verursachen kann. Lübbe folgert, dass die individuell unterschiedlichen Fähigkeiten, Freiheit zu nutzen, Ungleichheit erzeugen. Politische Maßnahmen zur Egalisierung von Ausgangsbedingungen lassen diese Ungleichheiten seiner Meinung nach umso deutlicher hervortreten. Lübbe diskutiert dabei auch die Frage, ob sich der ökonomische Wertbegriff auf die Moral übertragen lässt. Weiterhin geht es in seinen Ausführungen um den Beitrag der Wissenschaften zur Verständigung verschiedener Epochen in einer Zeit immer schnellerer Obsoleszenz von Wissen. Die Religionskritik der Aufklärung widerlegt Lübbe mit dem Argument, dass eine immer höher spezialisierte und lebensferne wissenschaftliche Forschung mit Glauben vereinbar ist. Dies illustriert er an Beispielen aus früheren Werken über die historische Entwicklung der amerikanischen Zivilreligion vor dem Hintergrund eines staatskirchenrechtlichen Trennungssystems, die Unabhängigkeit von Säkularisierung und Technologisierung westlicher Gesellschaften oder über den Missbrauchs totalitärer Ideologien als Religionsersatz. Die Funktion der Philosophie definiert er als Orientierung gebende Ursprungswissenschaft und Legitimation europäischer Wissenskultur. Insgesamt handelt es sich um eine – auch für Laien gut lesbare – sehr beschreibende Darstellung aktueller Entwicklungen, die von einem etwas pessimistischen Grundton getragen wird. Wer allerdings an Lübbe als Theoretiker des technokratischen Neokonservatismus interessiert ist, sollte besser zuerst Sekundärliteratur lesen und dann versuchen, deren Argumente an diesem Werk nachzuvollziehen.
Maria Grazia Martino (MAR)
Dr., Politikwissenschaftlerin, FU Berlin.
Rubrizierung: 5.425.415.462.222.232.32.352.612.643.52.343 Empfohlene Zitierweise: Maria Grazia Martino, Rezension zu: Hermann Lübbe: Zivilisationsdynamik. Basel: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/37775-zivilisationsdynamik_45639, veröffentlicht am 13.11.2014. Buch-Nr.: 45639 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken