Säkularisierung und Sakralität. Zum Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates
Wie viel Sakralität steckt im modernen Verfassungsstaat? Auf dem Weg zur Beantwortung dieser Frage bringt Horst Dreier mit beeindruckender Klarheit zum Ausdruck, dass „die Trennung von rechtlichen und religiösen Sphären nicht zur Schwächung der Religion führt, sondern eher zur Stärkung als Glaubensmacht“ (40). In dem der Staat die religiöse Wahrheitsfrage offen‑ und die Lösung den Individuen und ihren Religionsgemeinschaften überlasse, könne man festhalten, dass „Sakralität […] Objekt privaten Glaubens, nicht Basis staatlicher Legitimation“ (42) sei. Dreier untersucht im Fortgang, ob nicht doch vermeintlich sakrale Elemente, aufgrund des christlichen Erbes in Form der Kanonistik und der Hierarchien der römischen Kirche, im modernen Verfassungsstaat enthalten sein könnten. Hierzu beleuchtet er unter anderem Elemente des kanonischen Rechts, die Einzug in das heute geltende Strafrecht gefunden haben, betont aber die grundlegende Differenz von Genese und Geltung dieser Prinzipien. Es herrsche eine fundamentale Differenz zwischen Entstehungs‑ und Rechtfertigungszusammenhang. Im Hinblick auf die Aussage von Carl Schmitt, der zufolge alle prägnanten staatsrechtlichen Begriffe nur säkularisierte theologische Begriffe seien, stellt Dreier klar, dass Schmitt sich mit seiner politischen Theologie gegen eine Theorie, die eine „rein säkular‑rational[e] Grundlegung politischer Ordnung“ (77) vorsehe, stelle. Nach Dreier kann ein freiheitlicher Verfassungsstaat nur eine Grundlage haben, wenn er auf das von Schmitt eingeforderte Bündnis von Herrschaft und Transparenz verzichtet. Hinsichtlich der Behauptung, die Menschenwürde sei ein Derivat des Christentums, merkt Dreier an, dass die jeweils herrschenden christlichen Lehren lange Zeit eine verschleppende Wirkung auf die Festschreibung und Akzeptanz der Menschenrechte gehabt haben. Abschließend hält er fest, dass der moderne Verfassungsstaat säkular mit der viel diskutierten Wiederkehr des Religiösen umgehen müsse und er weder einer sakralen Aura noch eines Mythos bedürfe. Vielmehr bleibe die Trennung von Politik und Religion die Grundlage für die Schaffung und Bewahrung einer friedensstiftenden und freiheitsermöglichenden Ordnung.