Ungehorsam! Disobedience! Theorie & Praxis kollektiver Regelverstöße
Ein Ausgangspunkt des Sammelbandes ist die Erkenntnis, dass sich Praktiken zivilen Ungehorsams gegenwärtig in Deutschland einer bislang ungekannten Konjunktur erfreuen. Ziviler Ungehorsam, nach der Definition von Jürgen Habermas ein „Protest gegen einen unhaltsamen Zustand“ (8) mit politisch aktivierendem Potenzial, wird hier aus radikaldemokratischer Perspektive beleuchtet. In seinem einleitenden Aufsatz reflektiert Alex Demirovi? das Spezifische im Verhältnis von Ungehorsam und repräsentativer Demokratie. Als Reaktion auf politische Macht und den von ihr ausgehenden Konformitätsdruck stelle ziviler Ungehorsam einen emanzipatorischen Akt dar, insofern er sich gegen die Erziehung zur Unmündigkeit richte: „Ziviler Ungehorsam kann als ein Prozess der Neukonstitution demokratischer Gesellschaften verstanden werden, also als ein Prozess, in dem die Bürgerinnen und Bürger im Prinzip ihr Freiheitsrecht in einer Art Gründungshandeln jeweils von neuem in Anspruch nehmen.“ (17) Dabei, so seine Forderung, dürfe eine sich politisch progressiv wähnende Linke indes nicht stehen bleiben. Denn die Umgestaltung des „realen Gemeinwesens unserer Gesellschaft“ (29) lasse sich auf diesem reaktiven Weg nicht erreichen, sie bedürfe breiter aufgestellter und gestaltender politischer Intervention. Eine Option zur gestaltenden Intervention ist in dieser Perspektive sicher jene, die über die Organisation von Gewerkschaften Einfluss auf die bestehenden Produktions‑ und Arbeitsverhältnisse zu nehmen versucht. Julia Böhnke und Jan Duschek skizzieren in ihrem Beitrag jedoch, wie schwierig die Integration von Formen zivilen Ungehorsams in die Praxis der Gewerkschaftsbewegung ist. Dennoch lasse sich ein Trend ablesen, wonach „aktive Gewerkschaftsmitglieder einen gedanklichen und handlungspraktischen Paradigmenwechsel vollziehen: Weg von der kollektiven und individuellen Frage ‚Was darf ich tun?’ hin zu der Frage ‚Was finde ich richtig und legitim?’“ (115) Die Beiträge des Bandes gehen zurück auf die internationale Konferenz „Ungehorsam – Disobedience!“, die auf Initiative der Rosa‑Luxemburg‑Stiftung im Januar 2012 in Dresden stattgefunden hat.