Skip to main content
Tim B. Müller

Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien

Hamburg: Hamburger Edition 2014; 174 S.; 12,- €; ISBN 978-3-86854-279-0
Krisen und ihre Bewältigung verlangen nach historischen Vorbildern – gern wird man in der Weimarer Republik fündig. Es ist zumindest ein rhetorisches Mittel, sich mit der Vergangenheit und den dort ausgemachten Defiziten zu beschäftigen beziehungsweise selbst postulierte Normen auf die Geschichte anzuwenden. Die Normativität im Essay des Hamburger Historikers Tim B. Müller lautet: Demokratie ist mehr als ein Institutionengefüge, sie ist Ausdruck einer politischen Kultur, in der sich die Bürger als Gleiche unter Gleichen anerkennen und alle politischen Akteure ihr Handeln an diesem Ideal ausrichten. Und weil Ungleichheit diesem Ethos widerspricht, muss die liberale Demokratie zum sozialen Rechtsstaat werden. Wenig überraschend endet daher das Buch in der idealen Gegenüberstellung von Roosevelts New Deal‑Politik mit dem unglücklich agierenden Heinrich Brüning und seiner Austeritätspolitik. Diese Kontrastierung beansprucht in Zeiten von Sparprogrammen und Schuldenbremsen eine beachtliche politisch‑imaginäre Kraft. Vor dieser aktuellen Folie lässt der Autor schlagwortartig die Geschichte der Weimarer Republik Revue passieren, die er – wie heute üblich – nicht als Verfallsgeschichte erzählen will. So stehen vor allem politische Denker, Techniker und Praktiker im Mittelpunkt, die eine demokratische Ordnung verteidigten oder deren Kritik innerhalb eines demokratischen Rechtsstaates blieb. Aber lassen sich die jeweiligen Politikverständnisse so sauber und vor allem normativ voneinander trennen? Von Carl Schmitt ist jedenfalls nur als dem Faschisten die Rede, während der mitunter nicht unähnlich argumentierende Hermann Heller als lupenreiner Demokrat bezeichnet wird. Die häufig zu lesende These, Weimar sei keine Fehlkonstruktion, sondern an individuellen Fehlern der herrschenden Elite gescheitert, ist zweifellos sympathisch; sie impliziert aber, dass es eine andere Elite besser gemacht hätte. Die grundsätzliche Frage, ob ein expertokratisches Politikverständnis nicht mit der vom Autor vertretenen bürgerschaftlichen Demokratiekonzeption in Widerspruch gerät, wird leider kaum diskutiert; ebenso, dass der deutsche Sozialstaat eine Erfindung des Kaiserreichs war. Und dass der eine oder andere genannte Experte zu beachtlichen Anpassungsleistungen gegenüber diktatorischen Systemen bereit war, hätte ebenfalls durchaus Erwähnung finden können.
Frank Schale (FS)
Dr., wiss. Mitarbeiter, Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte, Technische Universität Chemnitz.
Rubrizierung: 2.24.12.3112.612.64 Empfohlene Zitierweise: Frank Schale, Rezension zu: Tim B. Müller: Nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburg: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/37214-nach-dem-ersten-weltkrieg_45729, veröffentlicht am 19.06.2014. Buch-Nr.: 45729 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken