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Perry Anderson

Die indische Ideologie. Essays. Aus dem Englischen von Joachim Kalka

Berlin: Berenberg Verlag 2014; 207 S.; Ln., 22,- €; ISBN 978-3-937834-70-2
Der britische Historiker Perry Anderson bietet einen Erklärungsansatz für ein äußerst widersprüchliches Phänomen: Einerseits ist Indien die – gemessen an der Bevölkerung – größte Demokratie der Welt, die seit Jahrzehnten als stabil gilt. Andererseits leidet ein großer Teil der Inderinnen und Inder unter einer geradezu unvorstellbaren Armut, mehr als die Hälfte der Kinder ist unterernährt, es wird davon ausgegangen, dass über 200.000 verschuldete Bauern Selbstmord begangen haben, und die Medien berichten über grausame Vergewaltigungen und Tötungen von Mädchen und Frauen. Wie passt das alles zusammen? Gar nicht, wenn man dieser essayistischen Rekapitulation der indischen Geschichte seit der Unabhängigkeit 1947 folgt. Anderson hat sie nicht zufällig unter einem Titel abgefasst, der an „Die deutsche Ideologie“ von Karl Marx angelehnt ist – geht es doch im Kern um die Illusion, dass die Interessen der Herrschenden (respektive der herrschenden Klassen) mit denen aller Mitglieder der Gesellschaft identisch sind. In Indien ist, so die Quintessenz dieser Analyse, diese Illusion so weit wie nur irgendwie vorstellbar von der Realität entfernt. Auffällig ist zunächst, wie schnell der (durchaus widersprüchliche) Einfluss von Mahatma Gandhi, dem geistigen Vater der Unabhängigkeit, verblasste und wie prägend der erste Ministerpräsident Jawaharlal Nehru für Politik, Gesellschaft und sogar den Verlauf der äußeren Grenzen war – mit Folgen bis in die Gegenwart, abzulesen am Kaschmir‑Konflikt, der Ausgrenzung der Muslime in Politik und Verwaltung (obwohl sie nach Anderson einen Bevölkerungsanteil stellen, der zum Beispiel dem der Afroamerikaner in den USA nichts nachsteht) und der Diskriminierung der Daliten, die als sogenannte Unberührbare aus dem Kastensystem ausgeschlossen sind. Dieses System aber verleiht Indien bis heute eine innere Struktur, die jedem demokratischen Anspruch auf gleiche Rechte widerspricht. Gerade weil die Gesellschaft durch die Kasten völlig starr ist, argumentiert Anderson, ist die indische Demokratie stabil – die sozial voneinander getrennten Bevölkerungsgruppen finden auch bei gleichen Interessen nicht zusammen. Außerdem weist der Historiker darauf hin, dass die lange führende Kongresspartei immer wieder das von der Kolonialmacht übernommene Instrument des Ausnahmezustandes eingesetzt hat, um Ruhe herzustellen. Anderson erklärt damit die indische Demokratie zu einem Scheinriesen, der seiner Aufgabe nicht gerecht wird. – Das also ist der Stand, an dem ausgerechnet die rechtskonservative hindu‑nationalistische BJP 2014 die Regierung übernommen hat.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.682.22.222.232.24 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Perry Anderson: Die indische Ideologie. Berlin: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/37178-die-indische-ideologie_45475, veröffentlicht am 12.06.2014. Buch-Nr.: 45475 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken