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Asiem El Difraoui

Ein neues Ägypten? Reise durch ein Land im Umbruch

Hamburg: edition Körber-Stiftung 2013; 262 S.; brosch., 16,- €; ISBN 978-3-89684-152-0
Allein schon der Titel klingt – Fragezeichen hin oder her – nach einem gerüttelten Maß an Optimismus. Dabei ist die Frage nach der zukünftigen Entwicklung Ägyptens, die Asiem El Difraoui in seinem Reisebericht umtreibt, alles andere als entschieden. Das vermitteln all die kleineren und größeren Plätze und Orte sowie die Menschen, die der Autor dort getroffen hat, wesentlich eindrücklicher als es eine wissenschaftliche Abhandlung je könnte. Diese Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz, die jede Reisereportage meistern muss, gelingt hier immer wieder, was etwa deutlich wird, wenn der Autor von der Begegnung mit der 27‑jährigen Ingenieurin und Informatikerin Nihal berichtet. Er trifft sie nicht etwa auf dem Tahir‑Platz (auch von dort kann er von Begegnungen berichten), sondern im Café Al Borsa – einem Rückzugsort, der dennoch auch „pulsierender Treffpunkt für junge politische Aktivisten“ (58) ist. Nihal hat die massiven und an vielen Orten immer noch stattfindenden An‑ und Übergriffe auf Frauen zu ihrem Thema gemacht. Vergewaltigungen sind aus ihrer Sicht nicht nur bloß Verbrechen und Erniedrigung der Frauen, sondern gleichsam auch eine politische Waffe zur Einschüchterung politischer Gegner. Oder der Fußball, andernorts ein Freizeitvergnügen, ist im Ägypten der Gegenwart ein Politikum, noch dazu ein in jeglicher Hinsicht brisantes: Ausschreitungen verfeindeter Fangruppen nach einem Spiel zwischen al‑Ahly und al‑Masry am 1.2.2012 in Port Said forderten 74 Tote und mehr als 1000 Verletzte. Asiem El Difraoui präsentiert eine alternative Version zur ansonsten verbreiteten Erzählung über die Ereignisse und ihre Ursachen: In einem Café im Zentrum von Port Said trifft er Adel Mohamed Shahad, einen Grundschullehrer, dessen Sohn nach den Ausschreitungen verhaftet worden war. Ihm zufolge geht das ausgebliebene Eingreifen der Polizei auf eine Entscheidung des damals herrschenden Obersten Militärrates zurück. Dieser habe sich an den Anhängern des Clubs al‑Ahly rächen wollen, weil diese federführend an den Ausschreitungen in Kairo im Zuge des Sturzes von Mubarak beteiligt gewesen seien. Solche und viele andere Geschichten, präzise beobachtet und lebendig erzählt, entwerfen das Bild einer Gesellschaft, die weder im Fußballstadion noch im Café wirklich zur Normalität findet. Asiem El Difraoui gelingt so eine überaus spannende, jedoch auch verstörende und – mit Blick auf die Zukunft Ägyptens – beängstigende Reportage.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.632.22.222.25 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Asiem El Difraoui: Ein neues Ägypten? Hamburg: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/36821-ein-neues-aegypten_44911, veröffentlicht am 06.03.2014. Buch-Nr.: 44911 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken