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Manfred Quiring

Der vergessene Völkermord. Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen

Berlin: Ch. Links Verlag 2013; 224 S.; brosch., 16,90 €; ISBN 978-3-86153-733-5
Die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi finden in einer Region statt, die Schauplatz zahlreicher kriegerischer Auseinandersetzungen und Gewalttaten sowie ethnischer und religiöser Konflikte war und ist. Der Journalist Manfred Quiring, langjähriger Korrespondent in Moskau und Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur Kaukasus‑Region (siehe etwa Buch‑Nr. 36510), schildert das Schicksal der Volksgruppe der Tscherkessen (Eigenbezeichnung: Adygejer). Diese bestand aus verschiedenen Stämmen, die erst in den 1930er‑Jahren eine gemeinsame Schriftsprache erhielten. Sie sah sich aufgrund der exponierten Lage ihres Territoriums am Schwarzen Meer über Jahrhunderte hinweg Eroberungsansprüchen des Osmanischen Reiches und des Moskauer Großfürstentums, später des Russischen Zarenreiches ausgesetzt. In einer von den 1760er‑Jahren bis in die 1860er‑Jahre währenden Reihe von Feldzügen wurden Hundertausende vertrieben, allein zwischen 1858 und 1865 waren mehr als 300.000 Tote zu verzeichnen. Heute leben etwa 700.000 Tscherkessen in verschiedenen russischen Teilrepubliken im Kaukasus, mehr als drei Millionen hingegen in der Diaspora – etwa in der Türkei und Syrien, aber auch in Deutschland. Die historische Darstellung wird immer wieder durch aktuelle Bezüge ergänzt. Der Autor übt dabei umfassend Kritik an den Verhältnissen in Russland, etwa unter umweltpolitischen Gesichtspunkten an den extensiven und exzessiven Baumaßnahmen anlässlich des nationalen Prestigeprojekts der Winterspiele sowie mit Blick auf die Kaukasuspolitik allgemein. Auch die Widersprüche der Nationalitätenpolitik werden aufgezeigt, etwa hinsichtlich der einseitigen Förderung bestimmter Kosakengruppen bei gleichzeitiger Ignoranz gegenüber anderen historischen Erfahrungen. So wird auch das Vertreibungsschicksal der Tscherkessen in der Öffentlichkeit nicht anerkannt. Deutlich wird dies an den Debatten um eine Anerkennung der Gewalttaten des 19. Jahrhunderts als „Völkermord“, wobei „diese These auch unter den Tscherkessen umstritten sei“ (131). Quiring jedenfalls bekennt sich mit dem programmatischen Titel eindeutig dazu.
Martin Munke (MUN)
M. A., Europawissenschaftler (Historiker), wiss. Hilfskraft, Institut für Europäische Studien / Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz.
Rubrizierung: 2.62 | 2.23 | 2.25 | 4.42 Empfohlene Zitierweise: Martin Munke, Rezension zu: Manfred Quiring: Der vergessene Völkermord. Berlin: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/36546-der-vergessene-voelkermord_44922, veröffentlicht am 19.12.2013. Buch-Nr.: 44922 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken