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Edgar Wolfrum

Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998-2005

München: C. H. Beck 2013; 848 S.; geb., 24,95 €; ISBN 978-3-406-65437-4
In dieser Rückschau, die noch auf die Empathie der Zeitzeugen bauen kann (so ein Gedanke aus dem Schlusswort), erweist sich der Amtsantritt der ersten rot‑grünen Koalition 1998 als ein Epochenumbruch. Edgar Wolfrum, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg, bescheinigt dieser Regierung, in einer „Scharnierzeit“ (12) unter dem Eindruck der längst wirkmächtigen Globalisierung die deutsche Gesellschaft nachholend modernisiert zu haben. Vor allem aber konstatiert er auch, dass diese Modernisierung nur einer linken Mehrheit möglich gewesen ist, mit der die 68er‑Generation stark wie nie zuvor und mit so vielen Frauen wie nie zu vor an der Macht vertreten war. Jedes andere Kabinett wäre angesichts der Reformvorhaben wohl mit einem übermächtigen Protest der Bürger_innen konfrontiert gewesen. Aus dieser Perspektive, mit der Wolfrum den Blick eben auch auf Erfolge oder wenigstens „eine Reihe posthumer Siege“ (711) lenkt, ergibt sich, dass in diesem Buch „die Akzente anders gesetzt worden [sind] als in den oftmals grimmigen Bilanzen, die unmittelbar 2005 entstanden“ (708). Dadurch, dass er die tagespolitischen Auseinandersetzungen zurücklässt, gelingt es Wolfrum, wie beabsichtigt mit dieser „vollständig aus den Quellen geschöpfte[n] Gesamtdarstellung […] eine eigenständige historische Perspektive“ (13) zu entwickeln. Diese Herangehensweise bringt die nötige Distanz zu den Protagonisten mit sich, lässt die Leser_innen aber nah an die politischen Weichenstellungen dieser Zeit heran. An erster Stelle steht hier, sowohl zeitlich als auch inhaltlich, das plötzliche Ende einer introvertierten Außenpolitik und die Beteiligung am Kosovo‑Krieg als Signal für die Bereitschaft, in einer globalisierten Welt Verantwortung zu übernehmen. Das Kapitel über Lafontaines finanzpolitische Vorstellungen, die aus heutiger Sicht gar nicht unvernünftig klingen mögen, zeigt zugleich den durch die internationalen Kontexte begrenzten Handlungsspielraum einer wohl jeden Bundesregierung auf. Neben zahlreichen Vorhaben (Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, Atomausstieg, Agenda 2010 etc.) hebt Wolfrum die Kultur‑ und Geschichtspolitik als besonders gelungen hervor, ließ doch die Bundesrepublik damit die Nachkriegszeit endgültig hinter sich. Nur das deutsche Lebensgefühl, ausgedrückt etwa in Film und Unterhaltung, erweist sich als widerspenstiges Sujet, das sich schwerlich fassen lässt. Der Historiker bietet auch hier eine Gesamtschau an statt einer Destillation, bringt das Ende aber auf den Punkt: Es begann „locker und spaßig“, „aber bald fraß der Zeitgeist seinen Kanzler“ (672).
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.315 | 4.21 | 2.321 | 2.35 | 2.341 | 2.342 | 2.343 | 4.22 | 4.3 | 4.41 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Edgar Wolfrum: Rot-Grün an der Macht. München: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/36409-rot-gruen-an-der-macht_44471, veröffentlicht am 14.11.2013. Buch-Nr.: 44471 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken