Rechtskultur in Russland: Tradition und Wandel
Auf die Schwäche des Sammelbandes weist der Herausgeber schon in seinem Vorwort hin: Er erscheine zu spät. Alle Vorträge und Referate wurden bereits im Mai 2008 auf einer juristischen Fachtagung in Hamburg gehalten. Die geringe Aktualität hält der Herausgeber aber aus zwei Gründen für weniger entscheidend: Erstens sei die Rechtskultur als Forschungsgegenstand so fundamental, dass er weniger schnell veralte als juristische Detailfragen, und zweitens habe Russland zum Zeitpunkt der Tagung vor einer zeitgeschichtlichen Zäsur gestanden, dem Wechsel im Amt des Staatspräsidenten von Wladimir Putin zu Dmitri Medwedew. Dass die russische Rechtskultur aus historischen und machtpolitischen Gründen viele Defizite hat, darüber sind sich die Autoren einig. Die ehemalige Moskauer Richterin Olga Kudeschkina beklagt zum Beispiel die Korruption im russischen Rechtssystem: „Ein wesentlicher Teil der Gerichtsentscheidungen wird nicht durch die Konkurrenz zwischen Anklage und Verteidigung bestimmt, sondern durch die Konkurrenz der Bestechungsgelder.“ (262) Aber nicht nur die Korruption untergräbt das Recht in Russland. Schon in der Gesetzgebung ist eine klare Trennung der Gewalten (Legislative, Exekutive und Judikative) nicht vorhanden. Die Gesetzgebung, so Luchterhandt, werde nicht durch die Legislative (Duma und Föderationsrat) bestimmt, sondern durch die Exekutive, insbesondere die Administration des Präsidenten, kontrolliert. Luchterhandt schätzt diese Dominanz der Präsidialexekutive als „höchst bedenklich“ (93) ein. Eine Exekutive, die derart stark die Gesetzgebung beherrsche, werde auch die Rechtsprechung und das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung beeinflussen. So kommt Luchterhandt zu dem Fazit: „Die für die Rechtskultur Russlands besonders typische, tiefe Kluft zwischen dem geschriebenen Recht der Gesetze und dem, was Politik, Verwaltung und Justiz in ihrem Alltag daraus machen, legt aber bedauerlicherweise der gesellschaftlichen Wirkung auch handwerklich gelungener und rechtsstaatlich unbedenklicher Gesetze hohe Hindernisse in den Weg.“ (106)