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Stefan Plaggenborg

Ordnung und Gewalt. Kemalismus – Faschismus – Sozialismus

München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2012; 433 S.; geb., 39,80 €; ISBN 978-3-486-71272-8
Als Reaktion auf die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg, gelangten überall in Europa in den 1920er-Jahren diktatorische Regime an die Macht. Drei davon – den Kemalismus in der Türkei, den Faschismus in Italien und den Sozialismus in der Sowjetunion – untersucht Plaggenborg erstmals systematisch in vergleichender Perspektive für die erste Hälfte des Jahrhunderts. Er ordnet damit die historische Entwicklung der Türkei, auf der der Schwerpunkt der Betrachtung liegt, in einen dezidiert europäischen Rahmen ein: Die Herrschaft Mustafa Kemals („Atatürk“) und seiner Nachfolger war in vielen Elementen eine Reaktion auf gesamteuropäische Entwicklungen. Trotz vieler nicht zu leugnender Unterschiede weisen alle drei Regime zahlreiche gemeinsame Aspekte auf, die in ihren Funktionszusammenhängen beleuchtet werden: die Bedeutung der Gewalt als Ordnungsfaktor etwa, die Auseinandersetzung mit religiösen Traditionen, die Herrschaft einer Partei unter einem charismatischen Führer und dessen Selbstverständnis als „Erbauer neuartiger politischer und gesellschaftlicher Ordnungen“ (23). Auch die gegenwärtige Rückschau auf alle drei Phänomene deutet auf Ähnlichkeiten hin, da Gewalttaten und Vertreibungen in den entsprechenden Ländern nur sehr selektiv erinnert werden. Dabei betont Plaggenborg, dass der vielfach betonte „faschistische Charakter“ des Kemalismus „wissenschaftlich nicht aufrecht zu erhalten“ sei: „Er taugt nur für Polemik“ (165). Die Grundlagen des politischen Systems der Zwischenkriegszeit blieben in der Türkei im Gegensatz zu den anderen beiden Staaten bis heute erhalten; der erfolgreiche friedliche Wechsel zu einem Mehrparteiensystem nach dem Zweiten Weltkrieg sei ein weiteres singuläres Kennzeichen, während der Staatssozialismus seine „zweite Chance“ nach dem Tod Stalins „verspielte“ (347 f.). In diesem Zusammenhang ist es ein weiteres wichtiges Verdienst der Studie, die Geschichte der Sowjetunion wieder in ihren Entwicklungsdynamiken betrachten, anstatt den Stalinismus als abgegrenztes eigenes Phänomen aus den Gesamtzusammenhängen herauszulösen.
Martin Munke (MUN)
M. A., Europawissenschaftler (Historiker), wiss. Hilfskraft, Institut für Europäische Studien / Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz.
Rubrizierung: 2.2 | 2.61 | 2.62 | 2.63 | 2.25 Empfohlene Zitierweise: Martin Munke, Rezension zu: Stefan Plaggenborg: Ordnung und Gewalt. München: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35366-ordnung-und-gewalt_42612, veröffentlicht am 16.08.2012. Buch-Nr.: 42612 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken