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Maik Tändler / Uffa Jensen (Hrsg.)

Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert

Göttingen: Wallstein Verlag 2012 (Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 27); 253 S.; brosch., 24,90 €; ISBN 978-3-8353-0964-7
Psychologische Erkenntnisse und Theorien wurden vor allem in den vergangenen 100 Jahren immer wieder instrumentalisiert, um politische Zielsetzungen und Reformen zu rechtfertigen oder zu erleichtern. Umgekehrt hat gerade auch die englischsprachige Forschung wiederholt gezeigt, dass psychologisches Wissen niemals objektiv und neutral, sondern immer auch von den jeweils herrschenden politischen Diskursen und Interessen beeinflusst ist. Die „wechselseitige diskursive und praxeologische Durchdringung von Psychowissen und Politik“ (13) ist somit politisch und gesellschaftlich höchst relevant und brisant, was bislang allerdings nur am Rande zum Thema sozialwissenschaftlicher Forschung geworden ist. Mit diesem Band wird versucht, einen Beitrag zum Schließen dieser Forschungslücke zu leisten und das Thema (wieder) stärker in den sozialwissenschaftlichen Diskurs einzubinden. Unter Psychowissen werden dabei „all jene Wissensbestände“ verstanden, „die eine säkulare Beschreibung und Erklärung des ‚seelischen Apparats’ von Individuen […] bereitstellen und dies mit praktischen Anweisungen zur Erkenntnis, Behandlung, Modellierung, Regulierung oder Befreiung dieses Selbst verbinden“ (10). Mit dieser Definition wird bewusst sowohl wissenschaftliches wie auch populäres Wissen miteinbezogen. Die politische, gesellschaftliche und ökonomische Bedeutung dieses Wechselspiels von Psychowissen und Politik wird etwa sehr schön im Beitrag von Christine Leuenberger deutlich, in dem sie am Beispiel Ostdeutschlands vor und nach der Wende die Entstehung und den Wandel des Begriffs der Neurose vor dem Hintergrund unterschiedlicher institutioneller und Interessenstrukturen analysiert. Jens Elberfeld wiederum diskutiert die Entwicklung der Paartherapie in Deutschland und zeigt, dass in der „Ambivalenz von Befreiung als Anpassung […] die Kompatibilität von therapeutischen Selbsttechniken und zeitgenössischen Formen der Gouvernementalität begründet“ (114) liegt. In weiteren Beiträgen beschäftigen sich die Autoren mit einer industriellen Psychotechnik im Produktionsprozess zu Zeiten der Weimarer Republik, der Rolle von Psychotherapeuten in der westdeutschen Friedensbewegung oder der grundlegenden (und politisch höchst bedeutsamen) Frage des Verhältnisses von Gesellschaftskritik und individueller Verantwortlichkeit in der Psychoanalyse.
Björn Wagner (BW)
Dipl.-Politologe, Doktorand und Lehrbeauftragter, Universität Jena.
Rubrizierung: 2.3 | 2.31 | 2.35 Empfohlene Zitierweise: Björn Wagner, Rezension zu: Maik Tändler / Uffa Jensen (Hrsg.): Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Göttingen: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35356-das-selbst-zwischen-anpassung-und-befreiung_42596, veröffentlicht am 20.12.2012. Buch-Nr.: 42596 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken