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Oskar Negt

Gesellschaftsentwurf Europa. Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen

Göttingen: Steidl 2012; 120 S.; 14,- €; ISBN 978-3-86930-494-6
Getrieben vom Ärger über die herrschenden Europadiskurse, in denen die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Menschen nicht vorkommen, legt Oskar Negt eine Streitschrift vor, in der er emphatisch für ein Europa als Gesellschaftsentwurf plädiert. Negt verfolgt zwei Argumentationslinien, die sich wechselseitig verstärken. Auf der einen Seite geht es ihm um eine Zeitdiagnose der verkehrten gesellschaftlichen Verhältnisse, auf der anderen Seite entwickelt er die Vision kollektiver Lernprozesse, die perspektivisch zur Etablierung einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft auf europäischer Ebene führen sollen. Die Verselbstständigung der Ökonomie und ihrer defizitären betriebswirtschaftlichen Rationalität haben zu einer „kulturellen Erosionskrise“ (32 ff.) geführt, die den sozialen Zusammenhalt massiv bedroht und in der Mitte der europäischen Gesellschaften einen „Angstrohstoff“ freisetzt, der schon jetzt von rechtspopulistischen Strömungen instrumentalisiert wird. Diese Tendenzen werden durch drei Herrschaftsmechanismen verstärkt: Die gesellschaftliche Polarisierung hat ein Ausmaß erreicht, das „jede Form der Leistungsgerechtigkeit infrage [stellt]“ (37 ff.). Flexibilisierungsideologien bewirken eine Fragmentierung von Ich-Identitäten und ökonomische Abkoppelungstendenzen schließlich grenzen mehr und mehr Menschen vom gesellschaftlichen Produktions- und Lebenszusammenhang aus. Eine wirksame Gegenwehr ist nur durch die Initiierung eines gesamteuropäischen Lernprozesses möglich, wesentlich gestützt durch eine Erwachsenenbildung, die endlich den Status einer öffentlichen Angelegenheit hat, statt lediglich Leerformel ubiquitärer Rhetorik zu sein. In diesen Lernprozessen müssten Negt zufolge dreierlei Einsichten zur Geltung kommen: Demokratie ist eine Lebensform, die lebenslanges Lernen verlangt, demokratische Gesellschaften erfordern jenseits der Bologna-Standards einen auf Aufklärung ausgerichteten Bildungsbegriff und schließlich darf die Arbeit am Gemeinwesen, an den sozialen Beziehungen in den Nahverhältnissen, nicht mehr als bloßes Anhängsel der Warenproduktion gelten, sie verlangt Anerkennung durch öffentliche Finanzierung.
Thomas Mirbach (MIR)
Dr., wiss. Mitarbeiter, Lawaetz-Stiftung Hamburg, Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.61 | 3.1 Empfohlene Zitierweise: Thomas Mirbach, Rezension zu: Oskar Negt: Gesellschaftsentwurf Europa. Göttingen: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35249-gesellschaftsentwurf-europa_42448, veröffentlicht am 17.01.2013. Buch-Nr.: 42448 Rezension drucken