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Karl Reitter

Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und die Bedingungen des freien Gemeinwesens

Münster: Westfälisches Dampfboot 2011; 493 S.; 39,90 €; ISBN 978-3-89691-887-1
In diesem sehr lesenswerten Buch entwickelt Reitter fundiert argumentierend einen theoretischen Rahmen eines freien Gemeinwesens (sprich: einer herrschafts- und unterdrückungsfreien Gesellschaft) – besser: eine Theorie über Bedingungen eines und den Prozess des Übergangs zu einem freien Gemeinwesen. Denn mangels historischer Erfahrung lässt sich „die politische Konstitution eines freien Gemeinwesens nicht im Detail antizipieren“ (15) und könnte somit allenfalls auf Spekulation und normativen Aussagen basieren. Grundlage seiner Abhandlung sind die Kategorien der „Produktivkraft der Arbeit“ (Marx) sowie des „Tätigkeitsvermögens des Körpers und des Geistes“ (Spinoza). Wichtigste Grundlage einer freien und selbstbestimmten Gesellschaft ist demgemäß die Überwindung der Fremdbestimmung beider Kategorien. Dies erfordert allerdings zugleich eine Überwindung des Kapitalverhältnisses. Dieses ist zwar weder allein bestimmend für die vielen unterschiedlichen Formen sozialer Herrschaft (hierzu gehören unter anderem auch geschlechtliche, rassistische oder kulturelle Herrschaftsformen) noch lässt es sich plausibel als das größte Unterdrückungsverhältnis bezeichnen. Dennoch kommt dem Kapitalverhältnis gewissermaßen eine übergeordnete und in diesem Sinne dominierende Form unter den verschiedenen Herrschaftsverhältnissen zu, indem es strukturierend auf praktisch alle gesellschaftlichen Lebensbedingungen wirkt. Diese Argumentation baut Reitter – und das ist unter anderem das erfrischend Neue im Vergleich zur (neo-)marxistischen politischen Ökonomie – vor allem auf der Ethik Spinozas auf, indem er dessen Ethik (und ihre Rezeption) hinsichtlich der Fragen diskutiert, auf welchen Grundlagen sich unser Tätigkeitsvermögen verändert und unter welchen Bedingungen wir wahre (im Sinne von freier, unverstellter) Erkenntnis gewinnen können. Das Buch liest sich zugleich als spannende Einführung in zentrale – teils neu interpretierte – Aspekte der beiden behandelten Ethiken. Reitter belässt es dabei nicht bei einer abstrakten Abhandlung. Basierend auf den entwickelten theoretischen Erkenntnissen schlägt er im Schlusskapitel die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens als möglichen politischen Schritt in einen Prozess der gesellschaftlichen Befreiung vor.
Björn Wagner (BW)
Dipl.-Politologe, Doktorand und Lehrbeauftragter, Universität Jena.
Rubrizierung: 5.3 | 5.32 | 5.33 | 5.42 Empfohlene Zitierweise: Björn Wagner, Rezension zu: Karl Reitter: Prozesse der Befreiung. Münster: 2011, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/34658-prozesse-der-befreiung_41647, veröffentlicht am 22.03.2012. Buch-Nr.: 41647 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken