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Christoph Kalter

Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich

Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2011 (Globalgeschichte 9); 567 S.; kart., 45,- €; ISBN 978-3-593-39480-0
Geschichtswiss. Diss. FU Berlin; Begutachtung: S. Conrad, A. Kwaschik. – Die sogenannte Dritte Welt schien lange Zeit eine objektive Beschreibung eines Zustandes zu sein. Tatsächlich aber war sie „ein sehr einflussreicher Ordnungsbegriff des 20. Jahrhunderts“ (18), in dem Wahrnehmungen des Kalten Krieges, der Dekolonisation und der wirtschaftlichen Globalisierung unter dem maßgeblichen Einfluss der USA zusammentrafen. Die nur vor diesem Hintergrund zu verstehenden, gleichwohl aber sehr ambivalenten Funktionen dieses Begriffs arbeitet Christoph Kalter am Beispiel der neuen radikalen Linken in Frankreich heraus. Seine aufschlussreiche Analyse beginnt er mit einer Darstellung der sozialwissenschaftlichen Begriffsverwendung, ausgehend von der sprachlichen Schöpfung der Dritten Welt 1952 durch den französischen Ökonomen und Demografen Alfred Sauvy – bis hin zur fast vollständigen Entwertung seit 1989/91 und der Feststellung des britischen Historikers B. R. Tomlinsen, dass es sich um keinen „trennscharfen analytischen Wissenschaftsbegriff“ (79) gehandelt hat. Vorgestellt werden dann die wichtigsten Kräfte der französischen Linken, ihre Traditionslinien, aber auch ihre Neuformierung unter Bezugnahme auf die Dritte Welt. Die textliche und theoretische Verwobenheit beider Sphären wird in einer Untersuchung der Zeitschrift „Partisans“ deutlich – in deren herausgebenden Verlag Maspero publizierte Frantz Fanon 1961 „Les Damnés de la terre“. Die Auflage der Zeitschrift sei zwar nie über 4.500 Exemplare gestiegen, erläutert Kalter, dennoch haben ihre Autoren – von denen ein Viertel der beschriebenen Dritten Welt zuzurechnen sei – „zur Entstehung, Verbreitung und Politisierung der Idee einer Dritten Welt“ (221) maßgeblich beigetragen. Dabei fällt allerdings auf, wie selbstbezogen dies mitunter war. Die sich dort artikulierende radikale Linke habe – wie die ebenfalls analysierte Parti Socialiste Unifié (PSU) und der aus ihr hervorgegangene Verein Cedetim, – mit diesem Engagement (auch und gerade vor dem Hintergrund des Algerien-Kriegs) eine Hoffnung verbunden. Die Massen sollten sich, wie von Fanon gefordert, politisch formieren. Dann werde „die Kolonialrevolution den Umsturz von der Peripherie nach Europa tragen“. Mit dieser Hoffnung aber sei es mit dem Ende des Vietnamkrieges vorbei gewesen. „Kaputt war die Idee, dass die Entdeckung der Dritten Welt den Imperialismus des Westens genauso überwinden helfe wie den Stalinismus und Reformismus des Ostens.“ (319) Mit den Verknüpfungen dieser Analyse zeigt Kalter überzeugend den Erkenntnisgewinn, der sich aus einer Historisierung der Dritten Welt ziehen lässt.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.61 | 2.22 | 2.23 | 4.1 | 4.44 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Christoph Kalter: Die Entdeckung der Dritten Welt. Frankfurt a. M./New York: 2011, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/34469-die-entdeckung-der-dritten-welt_41401, veröffentlicht am 16.02.2012. Buch-Nr.: 41401 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken