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Matthias Jestaedt / Oliver Lepsius / Christoph Möllers / Christoph Schönberger

Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2011 (edition suhrkamp 2638); 426 S.; 18,- €; ISBN 978-3-518-12638-7
Anlässlich des Jubiläums „60 Jahre Grundgesetz“ konnte man unlängst selbst in der wissenschaftlichen Literatur Jubelschriften beobachten – runde Geburtstage verleiten zum Schulterklopfen, sich gegenseitig versichernd, wie gut doch alles gelungen sei und dass das natürlich zukünftig auch so bleiben müsse. Nichts anderes passierte angesichts der Erfolgsgeschichte des Bundesverfassungsgerichts. Dass aber ausgerechnet ein relativ schwach legitimiertes und im Juristenkauderwelsch autoritativ von oben entscheidendes Verfassungsorgan im Vertrauen der Bürger bei Umfragen seit Jahren am höchsten rangiert, sollte für demokratisches Unbehagen sorgen. Vier Vertreter der neuen Generation der Staatsrechtslehrer unterziehen daher das Gericht, das längst zu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bis ins Detail hinein entscheidet, einer Kritik – und zwar unter dem gemeinsamen Stichwort der Entgrenzung: im historischen Zugang „als Gebilde, das sich wandelt, an Bedeutung gewinnt und verliert und von Kontexten abhängt, die es selbst nicht kontrollieren kann (Schönberger)“; in der „Analyse der keineswegs begriffsnotwendigen juristischen Weichenstellungen, mit denen“ es „sich erst zu dem gemacht hat, was es heute ist (Jestaedt)“, nämlich „ein Organ, dessen Aussprüche sich in einem Zwischenbereich von Recht, Wissenschaft und Politik zu bewegen scheinen (Lepsius)“; schließlich anhand der „offene[n] Frage seiner Legitimation (Möllers)“ (7). Als „permanente letzte Instanz, die es auch ohne individuelles Anliegen stets besser weiß“ (408), so Christoph Möllers, habe die „Selbstreferenzialität der Maßstäbe zur Entwicklung sehr hoher Rationalitätsanforderungen an den demokratischen Gesetzgeber geführt, den das Gericht mehr und mehr wie eine Behörde, nicht wie ein demokratisches legitimiertes Organ behandelt“ (407). Insgesamt bietet der Band eine sehr lesenswerte, heutzutage viel zu seltene, weil grundsätzliche und im weiteren Sinne rechtspolitologische Erörterung von Bundesverfassungsgericht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Ermächtigung zur Maßstabsetzung und Selbstermächtigung, Legalität und Legitimation, die über die alltägliche, bloße Kommentierung von Entscheidungen weit hinausreicht.
Robert Chr. van Ooyen (RVO)
Dr., ORR, Hochschullehrer für Staats- und Gesellschaftswissenschaften, Fachhochschule des Bundes Lübeck; Lehrbeauftragter am OSI der FU Berlin sowie am Masterstudiengang "Politik und Verfassung" der TU Dresden.
Rubrizierung: 2.323 Empfohlene Zitierweise: Robert Chr. van Ooyen, Rezension zu: Matthias Jestaedt / Oliver Lepsius / Christoph Möllers / Christoph Schönberger: Das entgrenzte Gericht. Frankfurt a. M.: 2011, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/34394-das-entgrenzte-gericht_41302, veröffentlicht am 01.12.2011. Buch-Nr.: 41302 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken