Berufsgewerkschaften in der Offensive. Vom Wandel des deutschen Gewerkschaftsmodells
Obwohl eine latente Konkurrenz zwischen Branchen- und Berufsgewerkschaften immer schon vorhanden war, hat diese erst in den vergangenen Jahren zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit erlangt. Die teils aggressiven Überbietungspolitiken der Berufsverbände, die bislang in den meisten Fällen auf eigene tarifpolitische Forderungen verzichtet und mit den Branchengewerkschaften kooperiert hatten, stellt verstärkt auch das gesamte deutsche System der Arbeitsbeziehungen auf die Probe. Die Autoren untersuchen erstmals im Detail Ursachen und Auswirkungen der wachsenden Zersplitterung der deutschen Gewerkschaftslandschaft und zeigen, dass es sich dabei um eine doppelte Integrationskrise handelt. Zum einen ist es den Branchengewerkschaften nie richtig gelungen, elitäre Statusgruppen umfassend zu repräsentieren. Zum anderen gelang es immer weniger, die Berufsverbände in das System der Arbeitsbeziehungen zu integrieren. Dass dies aber seit dem Ende der 90er-Jahre zu einer zunehmend eigenständigen Politik der Verbände führte, lässt sich auch auf vielfältige Umweltveränderungen zurückführen. Zunehmender Individualisierungsdruck auf Arbeitnehmer, der Druck von Seiten der Arbeitgeber auf Flächentarifverträge mit dem Ziel der Flexibilisierung, der Wandel der Branchen- und Unternehmensstrukturen und schließlich das Verhalten der Branchengewerkschaften selbst, die dem Druck auf den Flächentarifvertrag mit einer kontrollierten Dezentralisierung begegneten – dies sind die wesentlichen Ursachen der neuen Entwicklung, wie die Autoren anhand von vier Fallstudien (Marburger Bund, Verein Deutscher Ingenieure, Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, Verband angestellter Akademiker und leitender Angestellter der Chemischen Industrie) zeigen. Da diese Verbände zudem nicht nur relativ homogen sind, sondern auch Arbeitnehmer in Schlüsselpositionen vertreten, kommt ihnen zudem eine vergleichsweise hohe Arbeitsmarkt- und Organisationsmacht zu. Die Untersuchungsergebnisse weisen jedoch auch darauf hin, dass es sich bei diesen Entwicklungen eher um begrenzte denn um flächendeckende Phänomene handelt. Ein Ende des deutschen Systems der Arbeitsbeziehungen dürfte damit also nicht in Sicht sein – vorausgesetzt, die beteiligten Akteure lernen aus der Krise und überdenken ihre bisherigen Kooperations- und Mitgliederstrategien.